Sabihas Lied
sie, warf Sabiha noch einen Blick zu und kehrte in die Küche zurück.
Houria hatte recht. Sabiha stimmte ihr in jedem Punkt zu. Es würde für sie nie einen anderen geben als John. Es gab aber Dinge, die Houria einfach nicht verstehen konnte. Ihre Frage â »Liebst du ihn noch?« â erinnerte Sabiha unerklärlicherweise an den Tag, als John sie zum Eiffelturm mitgenommen hatte. Das war noch in der Anfangszeit ihrer Beziehung, als sie fast jeden Sonntag ausschwärmten, um die berühmten Pariser Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. An diesem Tag wirkte er so entschlossen, so erpicht darauf, die Führung zu übernehmen. Erst im Nachhinein wurde ihr klar, dass er damals alles sehen wollte, bevor sie nach Australien gingen. Doch dann kaufte er die falschen Tickets, so dass sie nur zur ersten Plattform zugelassen wurden. Sie hatte über seine Bestürzung gelacht, ihn in den Arm genommen und verkündet, die Aussicht sei so oder so wunderbar, sie würden ein anderes Mal wiederkommen und dann gleich zur Spitze hinaufsteigen. »Keine Sorge«, hatte sie zu ihm gesagt, »der Turm läuft uns nicht weg. Und es wird ihn auch niemand abreiÃen.« Aber sie hatten den Eiffelturm nie wieder in Angriff genommen.
Später, als Houria zu Arnoul Fort hinübergegangen und Sabiha im Haus allein war, lieà sie sich ein Bad ein. Sie riss sich die Kleider vom Leib und streckte sich im dampfenden Wasser aus. Dabei fiel ihr der Tag ein, an dem sie und John das zweite Mal in Chartres gewesen waren. Das Wetter war schön, als der Zug morgens in Paris losfuhr. Wie beim ersten Mal hatte John ihr Picknick in seinem alten Rucksack dabei. Sie waren beide bester Stimmung und freuten sich darauf, Chartres wiederzusehen. Als sie den Zug verlieÃen, hatte das Wetter umgeschlagen, es war grau und kühl, und als sie vom Bahnhof zur Kathedrale hinaufstiegen, fing es an zu regnen. An diesem Tag war Chartres alles andere als einladend, die StraÃen waren praktisch verwaist, sie hatten die Stadt ganz anders in Erinnerung gehabt. Zur Aufmunterung schlug sie ihm vor, zum Fluss zu gehen und nach »ihrer« Trauerweide Ausschau zu halten. Doch sie mussten dann feststellen, dass der Baum vor nicht allzu langer Zeit gefällt worden war. Sabiha erinnerte sich an den Schock, den der Anblick des weiÃen, feucht glänzenden Stumpfs in ihr ausgelöst hatte. Das war bestimmt ein unheilvolles Vorzeichen.
Sie lieà wieder heiÃes Wasser ein und wusch sich die Haare, dachte an Houria, die Arnoul und seiner Frau bei eisigem Regen ein Tablett mit zwei warmen Mahlzeiten gebracht hatte. Nicht aus Mildtätigkeit. Jahrelang hatte sich Houria bei Arnoul mit Stoff für die Café-Tischdecken und ihre Küchenschürzen versorgt. Die Baumwolle, die er seit Urzeiten auf Lager hatte, war von einer hervorragenden Qualität, die man heutzutage lange suchen musste. Inzwischen war Houria mit Arnoul und seiner Frau befreundet. Oft saà sie bei ihr am Bett und erzählte ihr den neuesten Klatsch. Und bei jedem Besuch brachte sie ihnen Gebäck oder warme Gerichte. »Ich möchte ein neues Rezept an euch ausprobieren«, erklärte sie gern. »Ihr seid beide so wählerisch. Wenn es euch schmeckt, werden die Männer es lieben.« Sie hatte versucht, den alten Arnoul mittags ins Café zu locken, aber er hatte das Chez Dom noch nie betreten â im Gegensatz zu André, ihrem Vermieter, der sich nicht lange bitten lieÃ. Er kam oft und aà mit den Arbeitern zu Mittag, ebenso oft schneite er auÃerhalb der Geschäftszeiten herein, setzte sich mit John an einen Tisch, trank Cognac oder Kaffee und rauchte eine Zigarette. Aber er bestand immer darauf zu bezahlen, das Geld schob er ganz altmodisch unter den Teller oder das Glas. Und bevor er ging, steckte er stets den Kopf durch den Perlenvorhang und wünschte Houria und Sabiha einen guten Tag.
Meistens fand André auch einen Anlass, sich über die mangelnde Instandhaltung des Cafés zu beschweren. Erst am Tag zuvor, als John ihm seinen Cognac servierte, hatte André einen Farbsplitter von der Fensterbank geklaubt.
»Ich weië, sagte John. »Im Frühjahr streiche ich sie neu.«
»Wenn die Witterung erste Schäden anrichtet, ist es zu spät, John, vergiss es«, murrte André. Als würde sein Gebäude zu Staub zerfallen, wenn John der Fensterbank nicht sofort einen neuen Anstrich verpasste.
Nach
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