Sabihas Lied
gab sie sich die Schuld. Und jetzt bestand sie auf ihren Willen. Vielleicht war sie zu unnachgiebig. Hin und wieder gestand sie sich ein, dass sie ihm gegenüber ungerecht war. Bei jeder Auseinandersetzung musste er sich am Ende geschlagen geben. Sabiha war bewusst, wie sehr sie sich verändert hatte, und darüber war sie keineswegs immer froh. Aber sie musste nun mal Kraft und Entschlossenheit an den Tag legen, wenn sie ihre Ehe erhalten wollte. Und jetzt wünschte sie sich, sie hätte John liebevoller verabschiedet, bevor sie ihn bei diesem Hundewetter in seinem lächerlichen kleinen Gefährt hinausschickte.
»Wenn Dom mich gebeten hätte, ihn nach Australien zu begleiten, wäre ich auf der Stelle mitgegangen«, sagte Houria und schnippte mit den Fingern. »Einfach so.« Sie lachte. »Das wär vielleicht ein Abenteuer gewesen.«
»Wenn ich nach Australien gehe, werde ich meinen Vater nie wiedersehen. Und dich auch nicht.«
Houria zuckte mit den Schultern. »Wir müssen das Leben führen, das wir uns ausgesucht haben.«
»Mein Leben ist hier.«
»Und was ist mit John?«, fragte Houria sanft. »Ist sein Leben etwa auch hier, mein Schatz?«
»Johns Leben ist da, wo ich bin.«
Houria musterte ihre Nichte. »Du hast dich verändert«, sagte sie freundlich, aber ein bisschen traurig.
Sabiha hörte die Traurigkeit heraus. »Wir haben uns wohl alle verändert«, sagte sie. »Das ist doch ganz natürlich, oder?« Wieder schaute sie zum Fenster hinaus. Im Haus des alten Arnoul Fort waren im ersten Stock die Lichter angegangen, hinter dem roten Vorhang sah man seinen Schatten hin und her huschen. Seine Frau war schon seit Jahren ans Bett gefesselt, und er kümmerte sich die ganze Zeit um sie, während ihr Textilgeschäft immer mehr verkam, die Ware veraltete und die Kunden ausblieben. Sabiha seufzte, plötzlich wurde ihr klar, dass jedes Leben mit Kummer verbunden war. Sie wandte sich wieder um und ergriff Hourias Hände.
Houria führte Sabihas Hände an die Lippen und küsste ihr die Finger. »Wenn ihr beide in Australien euer eigenes Zuhause hättet, würdest du dein kleines Mädchen vermutlich im Handumdrehen bekommen.«
»Das hier ist mein Zuhause«, sagte Sabiha. Sie zog die Hände zurück. Sie sperrte sich gegen die Worte ihrer Tante.
»Ihr könnt aber nicht ein Leben lang in dieser kleinen Dachkammer wohnen«, gab Houria zu bedenken. »Das tut euch beiden nicht gut. Und wie soll es erst werden, wenn ihr tatsächlich bald ein Kind bekommt? Zu dritt in diesem winzigen Zimmerchen? Da ist nicht genug Platz für ein Kind. Und mein Zimmer kann ich euch nicht geben. Es ist immer noch Doms Zimmer.« Sie lächelte breit. »Hey! Ich würde euch in Australien besuchen. Du könntest mich vom Flughafen abholen. Stell dir das nur vor! Ich lande am Flughafen und du holst mich ab. Wäre das nicht toll? Du hättest dort schon Fuà gefasst. Du könntest mir alles zeigen.«
Sabiha hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Warum lieà das Kind so lange auf sich warten? Was hielt es zurück? Hätte es im Chez Dom wirklich nicht genug Platz? Das konnte sie nicht glauben. Das wollte sie nicht glauben. Sie hatten bereits alle relevanten Untersuchungen durchführen lassen, und der Arzt hatte ihnen bestätigt, dass sie beide vollkommen gesund waren. Bei einem Test war Johns Spermienzahl zwar etwas niedrig gewesen, aber man hatte sie beschwichtigt, das sei nur vorübergehend und läge vermutlich an Johns Nervosität. John entgegnete, er sei nicht nervös. Da bekam er zu hören, dass man die eigene Nervosität nicht immer bemerke. Sie boten ihnen weitere Untersuchungen an, aber sie hatte die Nase voll. Allmählich hatte sie das Gefühl, ihr Körper gehöre ihr gar nicht mehr. Und vor dem Verkehr vergewisserten sie sich beide jedes Mal, welcher Tag das in ihrem Monatszyklus war und was für eine Temperatur sie hatte. John war das Ganze genauso verhasst wie ihr, aber er hätte um ihretwillen weitergemacht, wenn sie nicht die Notbremse gezogen hätte.
Sie erinnerte sich oft voll trauriger Sehnsucht an ihre erste Nacht mit John. In dieser Nacht glaubte sie, das Kind empfangen zu haben. Sie war davon überzeugt, dass ihr kleines Mädchen die geheimnisvolle Lebensreise angetreten hatte. Bis zum Morgengrauen lag sie wach, mit John an ihrer Seite, konnte vor
Weitere Kostenlose Bücher