Sabihas Lied
dass André selbst das Gefühl hatte, er hätte sich sein Leben durch die Finger rinnen lassen, trug vielleicht zur Sympathie zwischen beiden Männern bei.
John drehte sich mühsam um, drückte dabei seine Mütze gegen das Dach und linste zur Caféhintertür. Dort im Licht stand Sabiha, in ihre Strickjacke eingemummelt, und wartete darauf, dass er losfuhr, um ihm zum Abschied zu winken. Wenn sie ihn doch nur nach Australien begleiten könnte, dann wäre sein Leben perfekt. Oder so gut wie perfekt. Denn das Kinderproblem wäre damit noch nicht gelöst. Wie Sabiha wollte er ebenfalls gern Kinder, aber im Gegensatz zu ihr blieb er entspannt, im Vertrauen darauf, dass es mit der Zeit schon klappen würde. Wenn John sich ihre Kinder vorstellte â was häufiger vorkam, als Sabiha glauben wollte â, sah er sie immer im Hof der Schule herumrennen, an der er vor seiner Europareise unterrichtet hatte. Er konnte sich ihre Kinder nicht an einer Pariser Schule vorstellen. Er wusste nicht, wie Schulen in Paris aussahen. Er wusste nicht, wie der Alltag von Kindern in Paris verlief. Er kannte weder ihre Spiele noch ihren Slang oder ihre Geheimzeichen. Er hatte noch nie eine Schule in Paris betreten. Er wollte nicht, dass seine Kinder in dem Glauben heranwuchsen, sie wären Franzosen. Er hatte nichts gegen Frankreich. Auch nichts gegen Franzosen, aber er wollte seinen Kindern nicht die Erfahrung versagen, als Australier groà zu werden. Seine Kinder sollten so werden wie er. Wenn sie in Paris aufwüchsen, würden sie die Liebe ihres Vaters zu Australien nicht verstehen. Jedes Mal, wenn er versuchte, es Sabiha zu erklären, regte sie sich auf. Inzwischen konnten sie das Thema gar nicht mehr anschneiden, ohne dass einer von ihnen sich aufregte. Für Sabiha ging es nicht um Kinder an sich, es ging um ein einziges Kind, eine Tochter. »Warum nicht auch einen Sohn?«, fragte er sie. John war das Geschlecht egal, solange es sich um gesunde, glückliche australische Kinder handelte, die im Sonnenschein heranwuchsen, wie er früher. Er wollte sie zur Farm bringen, sie sollten seine Mutter und seinen Vater kennenund lieben lernen, und ebenso sein Land. Er träumte davon, ihnen die besten Angelstellen am Fluss zu zeigen, die besten Badestellen. Dort, wo er und Kathy in ihrer Kindheit geschwommen waren. Wenn seine Kinder in Frankreich aufwüchsen, wären er und seine Heimat ihnen fremd. Diesen Gedanken konnte er nicht ertragen.
In ihrem letzten Brief hatte seine Mutter die Frage gestellt, die ihr unter den Nägeln brannte, seit er sie an jenem bewussten Tag angerufen und ihr durch den Hörer zugebrüllt hatte: »Ich habe eben geheiratet!«
»Oh, Liebling, wie schön! Wie heiÃt sie denn? Sie muss ja ein echter Schatz sein, wenn sie sich auf dich einlässt. Gib ihr von uns beiden einen Kuss.«
Und nun, fast zwei Jahre später, hatte sie sich endlich dazu überwunden, ihm die groÃe Frage zu stellen: Gibt es schon erste Anzeichen für Nachwuchs? Dein Vater und ich können es kaum erwarten, Oma und Opa zu werden. Ich glaube nicht, dass deine Schwester jemals einen Mann kennenlernen wird, der ihren Ansprüchen gerecht werden kann, was meinst du? Und so bist du unsere einzige Hoffnung. Na, wie fühlt sich das an? Das ist eine blöde Frage, und ich sollte sie dir nicht stellen. Aber wir denken oft daran. SchlieÃlich werden wir alle nicht jünger. Dein Vater möchte eine Anzahlung auf eine Wohnung in Moruya leisten, aber mir sagt der Gedanke gar nicht zu. Es kommt mir so vor, als würden wir unsere eigene Beerdigung planen. Wir hatten eines unserer besten Jahre, seit du weggegangen bist. Im Fluss gibt es wieder Forellen, und jeden Abend fahren die Aalfänger mit ihren Lichtern vorbei und treiben die Hunde zum Wahnsinn. Es wird mir sehr schwerfallen, von hier wegzugehen, wenn die Zeit gekommen ist. Ich staune über deinen Vater. Er ist realistischer als ich. Du und ich waren schon immer die Träumer in der Familie, mein Schatz. Ich hoffe, du träumst immer noch. Ich tue es jedenfalls. Ich dummes Huhn.
John fragte sich, ob es ihnen wirklich so gut ging, wie seine Mutter ihn glauben machen wollte. Die Vorstellung, dass seine Eltern ihr Leben in einer Altenwohnanlage in Moruya beschlieÃen würden, während die Farm in fremde Hände überging, deprimierte ihn.
Er schaltete in den ersten Gang und lieà die Kupplung kommen.
Weitere Kostenlose Bücher