Sabihas Lied
Taucherglocke, die ihn bald in einsame Tiefen versenken würde. Hätte seine Mutter ihn in diesem Moment sehen können, wäre sie in Lachen ausgebrochen, ein liebevolles, wohlwollendes, belustigtes und zugleich schmerzliches Lachen, weil ihr Junge sich zu diesem albernen Schlaks entwickelt hatte. »Sieh dich doch an, John!«, hätte sie ihm zugerufen, wie sie es früher so oft getan hatte. »Sieh dich an!« Und das tat er dann auch, weil es ihm leichter fiel, sich mit den Augen seiner Mutter zu betrachten als mit seinen eigenen â und auch er musste über diesen Mann lachen, über den Mann, der er inzwischen war. Der nicht nur seiner Mutter Rätsel aufgab, sondern auch sich selbst. Seine Mutter hatte sich damals in ihm wiedererkannt und ihn zum Reisen ermutigt, sie dachte, es würde ihm guttun: »Mach schon, sieh dir die Welt an, sonst ergeht es dir wie deinem Vater und du bleibst ein Leben lang im Hinterland hängen.« Wenn er sie so reden hörte, grinste sein Vater. Er liebte die Farm. Er war mit seinem Leben zufrieden und hatte keinerlei Sehnsucht nach der groÃen weiten Welt. Jim Patterner genügten dreiÃig Zuchttiere und ein kräftiger Bulle, ihm genügten die Kürbisse und Tomaten, die er auf den schmalen Ãckern der Ebene anbaute. Die beiden waren immer zusammen glücklich gewesen, hatten sich bloà zum Spaà gezankt, weil Meinungsverschiedenheiten in ihren Augen jeder echten Freundschaft zuträglich waren. Sie hätte nur zu gern die Welt bereist. Sie war diejenige, die kistenweise alte Ausgaben des National Geographic aus dem Heilsarmeeladen in Moruya anschleppte. Als John in Melbourne unterrichtete, hatte sie ihm Ausschnitte geschickt, Bilder von Gletschern in Patagonien und vogelfressenden Spinnen im brasilianischen Regenwald, damit wollte sie ihren Sohn ermutigen, sich in exotische Gefilde zu begeben. »Na endlich!«, rief sie begeistert, als er an Weihnachten nach Hause kam und ihnen erzählte, dass er nach Schottland fahren wollte. Glasgow war zwar nicht Patagonien, aber immerhin ein Anfang. »Um mich und deinen Vater brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wir kommen schon klar.«
An diesem Morgen zündete sich John eine Zigarette an, bevor er losfuhr, um die Ware auszuliefern. Dann schaltete er den vorderen Scheinwerfer an und fixierte den flackernden Strahl fahlen gelben Lichts, das schwarze Kopfsteinpflaster glänzte, der Regen schlug gegen den Strahl. Das Ganze war schön und für ihn immer noch fremd, es gefiel ihm so sehr, dass es wehtat, und er wollte es ewig im Gedächtnis bewahren. Es hatte zweifellos etwas Erhabenes, nie würde es für ihn Wirklichkeit werden, selbst wenn er für immer hierbliebe. Es gelang ihm einfach nicht, in diese Wirklichkeit einzutreten. Sie entzog sich ihm, gewährte ihm keinen Zugang. Meistens war es für ihn Freude genug, seiner Frau und ihrer Tante im Chez Dom auszuhelfen, die Fertigkeiten anzuwenden, die er als Kind auf der Farm erworben hatte, manchmal stellte er sogar fest, dass diese tägliche Routine ihn zutiefst beruhigte, aber es brachte ihn nicht weiter. Er kam nicht mehr zum Lesen, verpasste die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Pädagogik, versäumte alles, was sich sonst in der Welt abspielte. Während er dieses Jahr dreiÃig wurde, stand in seiner Heimat bereits die nächste Generation in den Startlöchern. Er verspürte wachsende Isolation, Entfremdung, Ziellosigkeit. Das machte ihm manchmal Angst. Seine alte Wirklichkeit wartete auf ihn, seine Freunde machten ohne ihn weiter. Wie lange konnte das noch gut gehen? In Paris würde er nie Wurzeln schlagen. Er würde immer ein Durchreisender bleiben. Ein Zufallsgast. Ein Mann, der eines Tages in den falschen Zug gestiegen war und sich verliebt hatte. Das Chez Dom war ihm ans Herz gewachsen, genau wie Houria, und er liebte seine Frau, aber Paris und das Café waren nicht sein Leben. Er hatte oft den Eindruck, in die Geschichte eines anderen geraten zu sein. Immer wieder rief er sich in Erinnerung, dass er nur ein Leben hatte. Ein einziges Leben, John Patterner. Lass es dir um Gottes willen nicht durch die Finger rinnen. Hourias Vermieter André schien ihm der Einzige zu sein, der für seine missliche Lage Verständnis hatte, und wenn sie abends auf dessen Boot zusammensaÃen und in der Seine angelten, wagte er es ab und zu, dem älteren Mann sein Herz auszuschütten. Und
Weitere Kostenlose Bücher