Sabihas Lied
rundheraus ab. Es gefiel ihr, dass ihn dieses Ansinnen so offensichtlich beleidigte. Als er sich schlieÃlich von der Couch erhob, um in Madame du Bartasâ Pension zurückzukehren, war es nach ein Uhr morgens. Zum Abschied drückte Houria ihm den Arm und lud ihn gleich zum Frühstück ein. »Komm aber ja nicht zu früh«, sagte sie.
Sie und Sabiha blieben in der Tür stehen und sahen ihm nach, als er über die menschenleere StraÃe zum Platz ging. Er wandte sich im Laternenlicht um und winkte ihnen, und sie winkten ebenfalls. Houria sagte: »Es kommt mir irgendwie falsch vor, ihn so spät noch wegzuschicken, so ganz allein.«
Kaum war er auÃer Sichtweite, gingen sie hinein und schlossen die Cafétür ab. Houria sah ihre Nichte an, und sie umarmten sich. »Was für ein feiner Mensch«, sagte sie. »Es war schön, mal wieder einen Mann im Haus zu haben.« Dann vergossen sie beide ein paar Tränen, vor lauter Erschöpfung und Aufregung. Nach diesem langen fordernden Tag tat ihnen das Weinen gut.
Nur eines trübte in Sabihas Augen das perfekte Bild. Nachdem sie beide nach oben gegangen waren und sich gute Nacht gewünscht hatten, blieb sie vor der Schlafzimmertür ihrer Tante stehen und sagte bekümmert: »Ich weià einfach nicht, wie es weitergehen soll.«
Lächelnd antwortete Houria: »Versuch bloà nicht, heute Nacht deine Zukunft zu planen, mein Schatz. Es wird sich schon alles fügen, und sicher ganz anders als erwartet.«
Und so legten sich beide hin und blieben in ihren Zimmern noch lange wach, weil ihnen alles Mögliche durch den Kopf ging. Houria schlief schlieÃlich zuerst ein â Sabiha hörte sie durch die geschlossene Tür hindurch schnarchen. Dann nickte auch sie ein. Sie träumte, sie läge zu Hause in El Djem in ihrem eigenen Bett und neben ihr schliefe ihre Schwester Zahira. Der Lichtstreifen, der unter der Tür durchkam, beruhigte sie wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war, denn das bedeutete, dass ihr lieber Vater noch wach war und eines seiner Pamphlete für die Arbeiterbewegung verfasste. Sie wollte aufstehen und zu ihm gehen und ihm die Arme um die Schultern legen und ihn auf die unrasierte Wange küssen und ihm sagen, dass sie glücklich war. Aber sie konnte sich nicht rühren.
Zwei
E in bitterkalter Januarmorgen, zweieinhalb Jahre nachdem Sabiha und John den Tag in Chartres verbracht hatten. Sabiha hielt ihm gerade die Hintertür des Cafés auf. DrauÃen war es noch dunkel, nur das Küchenlicht drang in das Gässchen. Eine Böe fuhr durch die schmale StraÃe, so eisig, dass Sabiha unwillkürlich zurückwich und beinah die Tür losgelassen hätte.
John beugte sich hinunter und gab ihr im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange. Um den Wind zu übertönen, rief er laut: »Bis nachher, Schatz.« Als er in die Gasse trat, peitschte Eisregen gegen sein Gesicht und er senkte den Kopf. Den Mantelkragen hatte er hochgeschlagen, auÃerdem trug er einen grünen Wollschal um den Hals und eine schwarze Mütze, deren Zipfel im Licht aufglänzte wie ein wachsames Auge. John war unrasiert, er sah älter aus, ein Mann mit Sorgen und Pflichten, die ihn zu dieser Zeit stark belasteten. Er duckte sich und rannte zum Lieferwagen auf der anderen Seite, die letzte Portion der Tagesbestellung auf einem Tablett vor sich hertragend. Das weiÃe Tuch, mit dem es bedeckt war, flatterte im Wind, nur an zwei Ecken von seinen Daumen gehalten.
Sabiha sah ihm zu, als er sich bemühte, das Tablett in die Holzlaufschienen zu stecken, die er hinten im Lieferwagen eingebaut hatte. Die Laufschienen waren nicht perfekt rechtwinklig, so dass man bei jedem Tablett ein bisschen rütteln und schieben musste, bis es hineinpasste. John versprach ständig, die Schienen auszubauen und neu einzupassen. Aber er tat es nie. Es stellte sich heraus, dass seine Schreinerkünste eher bescheiden als berühmt waren. Er zimmerte hastig etwas zusammen und befand es dann für ausreichend. Die Arbeit lag ihm nicht am Herzen. Sie war für ihn kein Bestandteil eines Lebenswerks, sondern reine Ãbergangslösung. Nachdem er die Ladetüren geschlossen hatte, drehte er sich um und winkte ihr, dann stieg er vorne ein. Die Kabine war zu eng für seine lange Gestalt, so dass er sich krümmen musste.
Derart im Führerhäuschen zusammengekauert, wirkte John wie in einer
Weitere Kostenlose Bücher