Sabihas Lied
Schleifstab beiseite und packte mit einer Hand die Schulterrundung. Mit der anderen führte sie die schmale Klinge durch das Fleisch, trennte den Muskel vom weiÃen Knochen, der in allen Regenbogenfarben schillerte und bisher nie ans Tageslicht geraten war. Sie staunte über das, was die Natur im Verborgenen schuf. Ãber die Härte der Knochen, die im schmiegsamen Lammfleisch steckten. Warum war diese heimliche Knochenwelt so schön und so furchterregend? Warum brachte sie dieser Anblick heute dazu, über die Seltsamkeit ihres eigenen Lebens zu staunen, warum verstörte er sie so? Sie filetierte das Fleisch und hackte es in kleine Stücke. Den Knochen gab sie anschlieÃend in den Suppentopf, um ihn mit Kräutern köcheln zu lassen.
*
John legte Besteck auf, an manchen Tischen für vier, an anderen für zwei Personen. Die Männer hatten alle ihre Stammplätze. Ein Messer glitt ihm aus der Hand und fiel scheppernd zu Boden. Fluchend starrte John auf das Messer. Was war nur mit ihr los? Er holte tief Luft, dann bückte er sich, um es aufzuheben. Eine Weile stand er da und wog es in der Hand, vom heftigen Drang befallen, das schwere Ding gegen die Fensterscheibe zu werfen, er wollte sehen, wie Glas auf die StraÃe splitterte und Passanten erschrocken zurückwichen. Er hauchte die Klinge an, wischte sie an seiner schwarzen Schürze ab und legte das Messer dann behutsam an den richtigen Platz.
Auf diese Weise arbeitete er sich von Tisch zu Tisch durch den kleinen Speiseraum, deckte für jeden Gast den Platz. André zog am Fenster vorbei, auf dem Rückweg vom Spaziergang mit Tolstoi Nummer vier â oder fünf? Selbst André schien es nicht so genau zu wissen. Er klopfte mit seinem Ring gegen das Glas und winkte John zu.
Noch nie hatte er Sabiha in einer solchen Verfassung erlebt. »John!«, schnaubte er und spürte einen Anflug von Verzweiflung. Nächsten Juni würde sie achtunddreiÃig werden. Sollte sie je ein Kind bekommen, musste es in den nächsten paar Jahren passieren. Sie sprachen nicht mehr darüber. Sabiha regte sich jedes Mal dermaÃen auf, dass es keinen Sinn hatte. Aber vielleicht sollten sie doch darüber sprechen. Vielleicht sollte er darauf bestehen. Bestimmt fühlte sie sich ganz allein gelassen mit ihrer Angst, dass sie ihre kleine Tochter niemals bekommen würde. Aber wie konnte er das Thema ausgerechnet jetzt anschneiden, in dieser Stimmung? Er hätte ein Jahr seines Lebens darum gegeben, die dämliche Bemerkung ungeschehen zu machen, die ihm am Tag zuvor bei Tisch herausgerutscht war. Das war jedoch nur ein Teil des Problems. Im Grunde war alles das Problem, das vor Jahren zwischen ihnen entstanden war und seitdem stetig anwuchs. Es hatte auch mit ihrer Lebensphase zu tun. Die Alten wurden älter und starben, und auf einmal waren sie an der Reihe. Ihnen wurde Veränderung aufgezwungen, obwohl sie selbst im Stillstand verharrten. Die alten Träume schwanden. Und so kam eins zum nächsten.
Als alle Tische gedeckt waren, ging er hinter den Tresen und schenkte sich ein Glas Cognac ein. Er trank es in einem Zug aus, schloss die Augen, schenkte sich nach. Dann zündete er sich eine Zigarette an und trank den nächsten Schluck. Mit dem leeren Glas in der Hand stand er da, stieà Rauch aus und starrte auf das Telefon, das neben dem Tresen an der Wand hing. Der sterbende Vater, die Wechseljahre, die sich wie ein Raubtier, das in ihrem Inneren lauerte, erbarmungslos an sie heranpirschten, und die grausame Tatsache, dass sie allen Anstrengungen zum Trotz nicht Mutter wurde. Das war mehr, als sich auf Dauer ertragen lieÃ. Er nahm sich vor, nicht in erster Linie an sich selbst zu denken und sie nach Kräften zu unterstützen, in jeder Hinsicht. Ein Leben ohne Sabiha wäre kein Leben.
Er drückte die Zigarette in dem Aschenbecher auf dem Tresen aus und spülte das Glas. Beim Abtrocknen dachte er an seine Heimat. Vielleicht war es für eine Rückkehr zu spät. Vielleicht war er dafür zu lange weg gewesen. Das hatte er sich bisher nie überlegt. Mit siebenundzwanzig war er das erste Mal als junger Mann durch diese Tür gekommen. Im Dezember würde er zweiundvierzig werden, ein Mann mittleren Alters, der auf die fünfzig zusteuerte. Seine Zukunft bot keine Fülle romantischer Möglichkeiten mehr. Er zehrte längst von seiner Zukunft. Sein Leben war gelaufen. Er hatte nichts erreicht.
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