Sabihas Lied
stellte es zu den beiden Mehlhaufen auf die Arbeitsplatte und wandte sich ihr wieder zu. Sein Blick verweilte auf ihren Brüsten, die sich unter der weiÃen Bluse abzeichneten. Sie legte die Hand darauf.
»Was ist?«, fragte er. »Was hast du denn?«
»Nichts. Ich weià auch nicht.« Erneut musste sie lachen. »Tut mir leid«, sagte sie, immer noch lachend.
Er wollte sie auf den Mund küssen, aber sie wich ihm aus. Sein Verlangen wurde stärker. Er suchte ihren Blick. »Lass uns nach oben gehen«, sagte er und griff nach ihrer Hand. »Komm schon!«
»Lass den Unsinn!« Sie stieà ihn weg und bestäubte dabei sein blaues Hemd mit Mehl. »Ich muss den Filoteig machen.«
»Der Teig kann warten.« Er nahm sie in die Arme.
Sie riss sich los. Wie stark sie war, wie entschlossen. »Lass mich, bitte.« Voller Reue und Bedauern erinnerte sich Sabiha an die Zeiten, als sie einander pausenlos begehrten und immer sofort nach oben rannten, kaum dass Houria aus dem Haus war, lachend stürzten sie sich mitten am Tag aufs Bett und liebten sich im hellen Sonnenschein. »Hör schon auf, John. Wir brauchen den Teig.« Ihre Zurückweisung machte ihm sichtlich zu schaffen, genau wie der Gebrauch seines offiziellen Vornamens.
Bestürzt, wütend lieà er von ihr ab.
»Es tut mir leid«, sagte sie. In Wahrheit war sie froh.
Er drehte sich weg.
Sie sah ihm hinterher, als er die schwere Besteckschublade in den Speiseraum trug. Es tat ihr weh, so viel Ratlosigkeit und Schmerz in seinen Augen gelesen zu haben. Sie wusste, dass sie sich keinen besseren, treueren Ehemann hätte wünschen können, sie wusste, dass er seine Karriere und seine Träume geopfert hatte, um sie zu heiraten und ihr all die Jahre im Café beizustehen. Und sie liebte ihn. Allein die Vorstellung, ihn zu verletzen, war ihr ein Gräuel. Während sie dem Klappern der Messer und Gabeln im Speiseraum zuhörte, wo er die Tische für das Mittagessen eindeckte, überlegte sie, ob sie ihre Schürze abbinden und ihn nach oben ins Bett führen sollte. Doch dann widmete sie sich wieder ihrem Teig.
In den alten Liedtexten steckten die gesammelten Leiden und Wünsche von Frauen aus vielen Jahrhunderten. Ihre GroÃmutter und die stillen Berberfrauen in den Zeltlagern wären die Einzigen, die Sabiha nicht für verrückt erklären würden, weil sie so fest an ihr Kind glaubte. Leise begann sie zu singen. Die Lieder waren das Vermächtnis ihrer GroÃmutter. Selbst wenn John und ihre Gäste am Samstagabend gern ihren melancholischen Gesängen lauschten und manchmal sogar von der eigenen Wehmut zu Tränen gerührt wurden, würden sie die Lieder niemals von innen her begreifen. Als sie den Teig durchgeknetet hatte, formte sie daraus eine Kugel und strich mit den Fingern sanft über die seidig weiche Oberfläche. Die schimmernde Teigkugel sah fast aus wie der rasierte Kopf eines Mannes, dem die Gesichtszüge fehlten, eines unvollendeten Mannes, der noch Augen benötigte und eine Stimme. Sie sang leise weiter, während sie den Teig mit einem Tuch umhüllte und auf die kühle Schieferplatte in der Speisekammer legte. Dabei fragte sie sich: Schlägt mein Herz jetzt für immer in diesem neuen Rhythmus?
Sie blieb eine Weile in der Kammer stehen und starrte ins Dunkle.
Der feste Entschluss, endlich zu handeln, war gereift, war aus dem Schatten hervorgetreten, wie ein Boot, das mit seiner seltsamen Fracht still in den Hafen einläuft. Es war gar nicht so schwer. Sie wusste bereits, was zu tun war: Sie würde nicht länger auf ihr Kind warten, sondern es sich holen.
Sie schloss die Speisekammertür, ging zum Kühlschrank und nahm die Lammschulter heraus. Nachdem sie den Braten ausgewickelt hatte, legte sie ihn auf die Platte und schärfte mit ihrem Schleifstab die Klinge des kurzen Ausbeinmessers, betrachtete dabei das bläulich-rote Fleisch des geschlachteten Lamms, die zarten Sehnen und Häutchen, die ganze preisgegebene Pracht. Sie spürte die VerheiÃung von Dingen, die sie sich nie hätte träumen lassen. Und sie spürte auch ganz deutlich den Segen ihrer GroÃmutter. In Sabihas Entschlossenheit steckte die Stärke ihrer GroÃmutter. Sonst wäre sie gar nicht in der Lage gewesen, eine solche Entscheidung zu treffen. Dafür hätte sie weder den Mut noch die Vorstellungskraft aufgebracht.
Sie legte den
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