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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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goldenen, kursiv gesetzten Lettern, die sich über ein prachtvolles historisches Gebäude zogen, die Botschaft Stolichnaya Vodka prangte. Diese beiden fremdsprachigen Wörter würden ihr immer wieder in den Sinn kommen, wie ein Kehrreim, wie die Lösung eines Rätsels, das ihr keine Ruhe ließ. Als die Bahn kam, stieg sie ein und setzte sich gleich neben die Tür, mit der Handtasche auf den Knien. Sie schloss die Augen und neigte den Kopf zur Seite.
    Und so schoss der Zug mit ihr durch schwarze Tunnel dahin, jagte einen brüllenden Flüchtling aus der Unterwelt. Das Kreischen der Gleise in den Kurven klang in Sabihas Ohren wie die Schreie einer Verfolgten. Bis sie sich auf einmal, wie durch ein Wunder, von der Geschwindigkeit und ihrer Einsamkeit geborgen fühlte. Bald schon würde die Sonne aufgehen und die Finsternis vertreiben. Sie spürte einen Anflug von Glück, wie eine erfrischende Brise an einem drückenden Sommerabend in ihrer Heimat – die ihren Vater dazu brachte, von seinem Buch aufzuschauen und sie freudig anzulächeln. Sie hätte nicht sagen können, warum sie in diesem Moment Glück verspürte.
    Als die Bahn an ihrer Station hielt, stieg sie aus. Auf den Rolltreppen wimmelte es jetzt von Menschen, die zu den Bahnsteigen strömten, während sie die verbrauchte Nacht hinter sich ließ und dem Tag entgegenfuhr. Ich bin Sabiha, sagte sie sich auf dem Weg nach oben. Ja. Das ist der Name, den meine Mutter und mein Vater mir bei der Geburt geschenkt haben. Ich liebe meinen Namen, und ich halte das Andenken meiner Mutter und meines Vaters in Ehren.
    *
    Wie immer lief sie den Gang entlang, der zum hinteren Teil der Markthalle führte, und die Männer folgten ihr mit Blicken. Zunächst suchte sie die Damentoilette auf. In der Kabine zog sie ihre Unterhose aus und steckte sie in die linke Manteltasche, dann zog sie eine Binde aus der Handtasche und steckte sie in die rechte Manteltasche. Sie redete sich ein, dass es bloß eine klinische Maßnahme wäre. Auf keinen Fall mit Ekel, Schuld oder Scham verbunden. Nur die Fortführung der zahllosen Prozeduren, die sie und John in den ersten Jahren ihrer Ehe hatten über sich ergehen lassen müssen. Mehr nicht. Ein anderes Mittel zum selben Zweck. Einige dieser Prozeduren waren erniedrigend gewesen. Einige hätten einem fast die Seele zersetzt. Der einzige Unterschied zwischen damals und heute bestand darin, dass diese jüngste Maßnahme nicht offiziell genehmigt worden war. Sabiha hatte dafür kein Formular ausgefüllt, keine Schadensersatzverzichtserklärung für den Fall unvorhergesehener Komplikationen unterschrieben. Es war kein Bestandteil des hocheffizienten französischen Gesundheitssystems. Sie war nur hergekommen, um ein klar definiertes Ziel zu erreichen. Und so würde sie ganz emotionslos an die Sache herangehen. Würde sich der Maßnahme unterziehen. Würde sie klaglos über sich ergehen lassen, wie sie es früher in den Krankenhäusern getan hatte.
    Sabiha wickelte sich Toilettenpapier um Daumen und Zeigefinger, um den Klodeckel zu heben, und erleichterte sich, ohne sich hinzusetzen. Beim Anblick der dunkelgrün lackierten Kabinentür dachte sie daran, wie sie als Vierzehnjährige mit ihrer Schwester in einem Krankenhaus in Tunis auf ihre Mutter gewartet hatte. Die ganze Zeit hatten sie auf die glänzende grüne Tür gestarrt, aus der ihre Mutter wie versprochen mit einem neuen Brüderchen oder Schwesterchen treten sollte. Schließlich durften sie und Zahira in das Zimmer gehen, aber es gab kein Brüderchen oder Schwesterchen. Den geduldigen Erklärungen ihres Vaters hatte sie keinen Glauben geschenkt. Sie und ihre Schwester schauten bestürzt aufs Bett, als wäre ihre Mutter mit einem bösen Zauber belegt und gar nicht mehr sie selbst. Wie traurig ihre Mutter gelächelt hatte, von diesem fernen Ort aus, an den ihr totes Kind sie mitgenommen hatte. Die Kabinentür hatte genau dieselbe Farbe wie damals die Zimmertür im Krankenhaus. Sabiha wollte sich von diesen Erinnerungen nicht entmutigen lassen. Nichts sollte sie von ihrem Vorhaben abbringen.
    Sie knöpfte ihren Mantel wieder zu und trat in die geräuschvolle, von leistungsstarken Deckenlampen erhellte Markthalle, wo die endlosen Reihen von frischem Obst und Gemüse noch farbiger leuchteten als im Tageslicht. Wie gewaltige gefiederte Insekten fuhrwerkten die gelb-blauen

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