Sabihas Lied
religiös, aber die Onkel würden auf eine religiöse Bestattung bestehen. Ihr Vater hatte sich schon immer vom Rest seiner Familie unterschieden. Stolz erinnerte sie sich daran, wie er den Soldaten die Stirn geboten hatte, als sie das Haus ihrer Nachbarn nach Waffen durchsuchten und dabei alles auf den Kopf stellten. Damals war er auf die Soldaten zugegangen, ohne ihre wüsten Drohungen und Gewehre zu beachten. Damals hatte er dem Tod ins Auge gesehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er war sich doch bestimmt treu geblieben? Sie vertraute darauf, dass er den Krebs genauso in Schach halten würde, wie er die Vertreter der Staatsmacht in Schach gehalten hatte. Dass er den Krebs so lange um Aufschub bitten würde, bis er seine Enkelin im Arm hielt.
Sie trug eine Schale Kaffee und zwei Sesamplätzchen nach oben. Im Schlafzimmer knipste sie die Nachttischlampe an, schob Johns Buch beiseite und stellte Kaffee und Plätzchen neben dem Bett ab. John richtete sich auf den Ellbogen auf und dankte ihr. Er sah ihr beim Ankleiden zu.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er zärtlich. »Hast du gut geschlafen?«
Sie zog sich das Kleid über den Kopf und knöpfte es zu, ohne John anzusehen.
»Du wirst doch hoffentlich deinen Mantel anziehen«, sagte er. »Dieses Kleid ist viel zu dünn.« Verzweifelt überlegte er, wie er die Stimmung zwischen ihnen ein wenig auflockern könnte. »Letzte Woche hast du den Safran vergessen. WeiÃt du noch?« Er lachte. Es klang nicht gerade überzeugend.
»Er steht auf meiner Liste«, antwortete sie leise und kämpfte mit dem letzten Knopf. Die Welt war bereits in zwei Teile zerfallen, während sie aus der Umlaufbahn schoss und auf einen kochenden Sonnenkessel zuraste. Das sprengte jede Vorstellungskraft.
»Liebling, was hast du? Warum weinst du?«, fragte John. »Komm zu mir. Sag mir bitte, was los ist.«
Jetzt sah sie ihn an. »Ich weine doch gar nicht«, sagte sie lächelnd. »Soll ich dir was mitbringen, hast du einen besonderen Wunsch?«
»Es tut mir leid«, sagte er. »Was immer ich getan oder nicht getan habe, tut mir leid.« Er setzte sich auf und breitete die Arme aus. »Komm schon her, Liebling!«
Sie ging zu ihm, beugte sich vor und küsste ihn ganz leicht auf die Lippen.
Er wollte sie in die Arme nehmen, aber da hatte sie sich schon wieder aufgerichtet.
»Ich habe bloà an meinen Vater gedacht«, sagte sie und zuckte die Achseln. Dann lächelte sie. »Ich muss los.« In diesem Moment hatte Sabiha das Gefühl, dass sie und John die einsamsten Menschen der Welt waren. Warum?, dachte sie verzagt. Warum diese Einsamkeit? Womit haben wir sie verdient?
John nahm die Schale vom Nachttisch. Schlürfend trank er seinen Kaffee und tunkte ein Sesamplätzchen ein.
Sabiha betrachtete ihn. An seinen Lippen klebten ein paar Krümel, ein Sesamkorn schimmerte wie ein winziger Zahn auf seiner unrasierten Wange. Sie hätte ihm die Krümel und Körnchen zärtlich aus dem Gesicht wischen und ihn küssen können. Aber sie knöpfte nur ihren Mantel zu, während sie noch am Bettende stehenblieb.
Da befiel ihn eine dunkle Vorahnung: Die Art, wie sie ihn ansah, ihr maskenhaftes Gesicht, das von der Nachttischlampe unheimlich beleuchtet wurde, ihre Augen, die so reglos, so traurig, so entschlossen schienen. Als wäre sie nicht hier bei ihm, sondern an einem ganz anderen Ort.
An der Tür drehte sie sich noch einmal um und warf ihm eine Kusshand zu. Dann war sie verschwunden.
E s war immer noch dunkel, als Sabiha das Café durch die Hintertür verlieÃ. Sie machte sie zu, ohne hinter sich abzuschlieÃen. Die Luft war kühl und trug noch den Geruch der Nacht in sich. Die Stadt wachte gerade erst auf. Auf dem Dach von Johns Lieferwagen saà Andrés Katze und beobachtete sie, in ihren Augen blitzte ein Lichtstrahl auf. Sabiha ging am Ende des Gässchens nach rechts in die Rue des Esclaves, auf die Métrostation zu. Eine Reinigungsmaschine kroch am Rinnstein entlang, versprühte Wasser und lieà Besenbürsten wirbeln, um den Abfall vom Vortag zusammenzukehren.
Auf dem Bahnsteig warteten auÃer Sabiha nur wenige Leute. Sie schenkte ihnen keine Beachtung und wurde von ihnen ebenfalls nicht beachtet. Später sollte sie sich, wenn auch nur verschwommen, an die gewölbte Werbetafel erinnern, die ihr gegenüber an der Tunnelwand hing und auf der in
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