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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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Gabelstapler herum, die Männer weit überragend, und trugen eine Auswahl der vorzüglichsten Waren davon. Als Sabiha bewusst wurde, dass sie ihre Handtasche an die Brust presste, atmete sie locker ein, ließ die Tasche vom Handgelenk baumeln, strich sich mit der anderen Hand das Haar aus der Stirn und straffte die Schultern. Nun schritt sie in ihrer gewohnten Haltung aus, mit erhobenem Kopf, den Blick nach vorn gerichtet, als liefe sie dort, wo sie niemand sehen konnte – in der Wüste, unter dem nächtlichen Sternenhimmel, wo Einsamkeit sich wie Balsam auf die leidende Seele legt, während sie auf die Höhle des schlummernden Löwen zuwanderte. Sie hatte zwar Angst, aber auch endlich die Gewissheit, dass sie ihr Ziel erreichen würde.
    Als Sabiha an den zahllosen Ständen vorbeiging, nahm sie die lauten Rufe der Händler, das ganze bunte Spektakel kaum wahr. Traurig und beschämt dachte sie an die Zeit zurück, da John auf ihr Drängen hin mehrfach Samenproben für die einschlägigen Untersuchungen abgeben musste. Fast schien es so, als sollte seine Männlichkeit getestet werden, als wäre John selbst Gegenstand der Untersuchung. An seinen Augen, an seinem zerknirschten Lächeln hatte sie ablesen können, wie gedemütigt er sich dadurch fühlte. Sie hatten nie darüber gesprochen. Als Sabiha erkannte, dass diese grässlichen Untersuchungen und Befragungen ihren sehnlichsten Wunsch nicht erfüllten, sondern entweihten, hatte sie der Sache ein Ende gesetzt. »Wir hören damit auf«, hatte sie eines Tages verkündet. Danach war davon nie wieder die Rede gewesen.
    Für die aufwendigen Therapien, die neuesten Verfahren der Reproduktionsmedizin waren sie und John ohnehin nicht in Frage gekommen. Ihnen fehlte ja nichts. Körperlich war bei ihnen alles in Ordnung, und mit der menschlichen Seele befassten sich diese Ärzte nicht. Man riet ihnen, sich an einen Psychologen zu wenden. John war dazu bereit gewesen, sie nicht. Die Entwürdigungen sollten ein Ende haben. Ihre Liebe hatte diesen Prozess nicht unverändert überstanden. Geblieben war das Gefühl von etwas Unvollendetem. Ihr Schweigen bezeugte es jeden Tag aufs Neue. Bis John über Brunos Kindersegen gescherzt und bei ihr eine ungeahnte Reaktion ausgelöst hatte. Das Warten war vorbei. Umso besser.
    Als sie sich Brunos Stand näherte, bekam Sabiha eine leichte Gänsehaut. Sie fing an zu zittern, wie immer, wenn ihr eine Prüfung oder Untersuchung bevorstand, nie war es ihr gelungen, diese Anfälle von nervösem Schüttelfrost zu unterdrücken, wenn sie sich hinter der Stellwand auszog und auf den Arzt wartete. Jedes Mal musste sie sich innerlich wappnen, um das Ganze durchzustehen, um Arzt und Krankenschwester anzulächeln, während ihr insgeheim schauderte.
    Auf den letzten Metern bläute sie sich ein: Es ist nur eine klinische Maßnahme. Das war ihre bescheidene, persönliche Version einer universellen Moral, der Schlüssel zum Wahren und Guten, der sie vor der eigenen Verzweiflung schützen, der Zauberspruch, der ihre Ungläubigkeit im Keim ersticken sollte. Doch es gab zwei Wörter, die in ihrem Kopf alles andere übertönten und ihre Versuche, sich selbst zu belügen, durchkreuzten: Stolichnaya Vodka. In ihr regten sich Zweifel. Etwas in ihr leistete Widerstand. Protestierte lauthals. Etwas Archaisches. Eine uralte, felsenfeste Überzeugung, die sich von Sabihas Wortgeklingel weder erschüttern noch einlullen ließ. Eine Überzeugung, die viel weiter zurückreichte und von viel größerer Dauer war als klinische Maßnahmen. In diesem Widerstand erkannte sie den Kern der Lieder ihrer Großmutter wieder, die Weisheit der Ahninnen. Diese Frauen ließen sich nicht täuschen. Sabiha hörte das Echo ihres Widerspruchs, hörte den Chor der mythischen alten Berberinnen. Sag die Wahrheit, hatte ihre Großmutter immer gefordert. Sprich sie aus, egal wie sie lautet. Tu, was du nicht lassen kannst, aber lüge unter keinen Umständen. Bekenne dich zu deinen Taten. Nenne die Dinge beim Namen.
    Und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, dank der schlichten Wahrheitsliebe ihrer Großmutter: Sie war nicht die erste Frau, die auf diese Weise ihren Kinderwunsch zu erfüllen trachtete. Sabiha blieb jäh stehen, presste sich die Handtasche wieder an die Brust, auf einmal wusste sie, dass ihr Plan so alt war wie die

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