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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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von ihm los. Sie nahm ihre Unterhose aus der Manteltasche, legte die Binde hinein und zog sich beides über. Danach strich sie sich das Kleid glatt, knöpfte den Mantel zu, tastete im Dunkeln nach ihrer Handtasche. Auch sie zitterte jetzt. Ihr dröhnte der Kopf. Als sie die Tür öffnen wollte, ließ sie ein seltsames Geräusch innehalten. Bruno lag ihr schluchzend zu Füßen. Sabiha wurde plötzlich kalt. Er weinte tatsächlich.
    Sie packte den Türgriff, stieß beide Flügel auf und stieg aus. Blindlings eilte sie durch den Gang zum vorderen Teil des Marktes, während hinter ihr Brunos Lieferwagentüren quietschend hin und her schwangen. Sabiha verbot sich jeden Gedanken an ihn. Er war schließlich ein Mann. Warum musste er auf die Knie sinken und in Tränen ausbrechen? Sie fühlte sich nicht in der Lage, am Stand ihrer Freundin Sonja die übliche sorgfältige Gewürzauswahl zu treffen. Nein, sie musste auf der Stelle nach Hause zurück.
    Auf dem Weg zum Ausgang empfand Sabiha die widersprüchlichsten Gefühle. Zwischendurch legten sie sich, brachen dann umso stärker wieder hervor, stürmten freudig der Zukunft entgegen. Sie war davon überzeugt, dass Bruno dem Kind, das in ihr geborgen war, den Weg gebahnt hatte. Aber sie war außer sich. Seine Tränen machten ihr Angst. Das Unvorhergesehene, das aus ihrer Handlung erwuchs, aus seiner Seelenpein, aus der unbekannten Sphäre, die sie mit ihm zusammen betreten hatte, ragte auf einmal bedrohlich auf. Damit hatte sie nicht gerechnet. Männer gingen mit ihrem Samen verschwenderisch um und prahlten auch noch damit. Männer betrogen ihre Ehefrauen und lachten einfach darüber. Warum musste ausgerechnet dieser Mann auf die Knie sinken und in Tränen ausbrechen? Brunos Kummer brachte sie aus der Fassung.
    Doch als sie die Métrostation ansteuerte, befand sich Sabiha in einem reinen Freudentaumel. Das Ganze wäre ihr wie ein Traum vorgekommen, hätte sie zwischen ihren Beinen nicht die Binde gespürt. Aber es war wirklich passiert. Sie hatte es getan. Und sie war nicht die Erste. So alt wie die Menschheit, dachte sie wieder, so alt wie die Weiblichkeit. Ihr Kind würde nicht länger im ewigen Dunkel verharren. Jetzt hatte es sich ganz langsam auf den Weg zu ihr gemacht. Ihr sehnlichster Wunsch war, die Mutter ihres Kindes zu werden. Ihm das Leben zu schenken, es zu trösten, ihm im Notfall das eigene Leben zu opfern. Und wollte man sie wegen der Art und Weise verurteilen, mit der sie sich ihren sehnlichsten Wunsch erfüllt hatte, würde sie ihren Richtern in die Augen sehen und sich ohne weiteres schuldig bekennen. Ja, ich habe es getan. Ich habe es für mein Kind getan. Wer sollte sie dafür schon verurteilen? Eine Frau, in deren Leib ein Kind heranwächst, ist nicht allein.

J ohn saß aufrecht im Bett und lauschte ihren Schritten, als sie die Treppe hinunterging. Die Tür hörte er nicht zufallen. Er wartete ein paar Sekunden, unsicher, ob sie gegangen war oder nicht, dann rief er ihren Namen, erhielt aber keine Antwort. Im Haus herrschte jetzt vollkommene Stille, die Stille der Leere. Er stopfte sich beide Kissen hinter den Rücken, trank einen Schluck Kaffee und schlug sein Buch auf. Er liebte diese friedliche Morgenstunde. Wenn Sabiha freitags zum Markt aufbrach, blieb er meistens im Bett liegen, um noch ein bisschen zu lesen. An jenem Morgen starrte er auf das offene Buch und dachte an Sabihas gequälten Gesichtsausdruck, als sie ihm zum Abschied den Handkuss zuwarf, so, als müsste sie ihn für immer verlassen. Die Vorstellung schnürte ihm die Kehle zu.
    Nachdem er sich angezogen hatte, riss er die Vorhänge auf und blieb am Fenster stehen. Die quellenden Wolken waren noch von der Morgenröte getönt. Die ersten Kunden gingen im Eckladen der Kavi-Brüder ein und aus. Dort draußen verlief alles wie gewohnt. Er trug die Kaffeeschale nach unten, stellte sie in der Spüle ab und ging in den Speiseraum. Er hob die Post auf, die vor der Eingangstür lag, dann trat er auf die Straße und warf einen Blick in beide Richtungen. André kehrte gerade von seinem Morgenspaziergang mit Tolstoi zurück. Der große, zottelige Hund schritt wie in Zeitlupe neben ihm einher, die grauen Augen in eine unbestimmte Ferne gerichtet, wo seine Urahnen ihre blutigen Taten verrichteten, diese sibirischen Steppenhunde, die einst im Schnee Wölfe gerissen

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