Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
Vom Netzwerk:
durchaus verstehen, weißt du.«
    Sie wandte sich ab, den Blick auf die Arbeitsplatte gerichtet, und fuhr mit dem Finger über die rötliche Verbrennung an ihrer Hand.
    John wartete kurz, aber sie wagte es nicht mehr, ihn anzusehen. Er durchquerte die Küche und nahm einen Stapel Schalen aus dem Regal über dem Holztresen. Dann reihte er die Schalen neben dem Herd auf, stützte sich mit beiden Händen auf die Arbeitsplatte und drehte den Kopf nach rechts Richtung Speiseraum, während Sabiha links am Herd stand, mit dem Rücken zu ihm, und die nächsten Schalen mit ihrem scharfen Eintopf füllte. Sie hätte für ihn nach wie vor eine fremde Schönheit sein können, eine Frau aus einer Welt, die er nicht kannte, eine Frau, deren Gedanken er nicht einmal ansatzweise erahnte.
    Durch den Perlenvorhang konnte er Bruno im Profil erkennen. John wusste, dass er ein anständiger Mann war. Zuverlässig und immer gut gelaunt. Sie waren zwar keine Freunde, aber sie achteten sich gegenseitig und schätzten die Zusammenarbeit. John hatte Bruno stets für glücklich und zufrieden gehalten. Noch nie hatte er ihn so aufgelöst erlebt wie an diesem Tag.
    Bruno starrte auf seine Hände, die er in den Schoß gelegt hatte und nun selbstvergessen knetete. Es war nicht das ängstliche oder sorgenvolle Händeringen eines alten Mannes, sondern wirkte eher wie Dehn- und Lockerungsübungen vor einem Wettkampf.
    Nejib und sein schweigsamer Gefährte traten durch die Eingangstür. John ließ sie nicht aus den Augen. Auf dem Weg zu ihren Stammplätzen nickten die beiden ihren Bekannten zu. Nejib setzte sich wie immer so, dass er Bruno das Gesicht zuwandte, während der andere Seite an Seite mit dem Italiener Platz nahm. Sie starrten ihn beide an, als ihnen sein Zustand auffiel, und schauten dann wieder weg. Nejib und sein Begleiter wechselten einen Blick, sagten jedoch nichts. Bruno schien sie gar nicht zu bemerken. John wusste nicht, warum zwischen ihm und den zwei anderen Männern eine solche Feindseligkeit herrschte, aber schon bei Brunos erstem Auftreten im Café war es offensichtlich gewesen, dass sie sich alle drei von früher kannten. Bruno ließ keinen Dienstag verstreichen, ohne Nejib und dessen Gefährten auf die eine oder andere Weise zu provozieren. Immer war es Nejib, der diese Sticheleien abwehrte, aber für John lag es auf der Hand, dass der eigentliche Konflikt zwischen Bruno und dem anderen bestand. Es wirkte so, als wollte der Italiener den schweigsamen Mann stets daran erinnern, dass sie noch eine alte Rechnung offen hatten und Bruno nur darauf wartete, sie zu begleichen. Wahrscheinlich ging es dabei um verletzten männlichen Stolz. Nejib sorgte dafür, dass die Stimmung zwischen den beiden Männern nicht eskalierte, was John mit Dankbarkeit erfüllte.
    Er nahm drei volle Schalen von der Marmorplatte, trat rückwärts durch den Perlenvorhang und trug sie in den Speiseraum. Die erste stellte er mit einem Gruß vor Bruno ab. Bruno gab keine Antwort, sondern starrte weiter auf seine inzwischen reglosen Hände. John wollte sich gerade wegdrehen, als Bruno plötzlich zu ihm aufsah, mit dem Ausdruck eines Mannes, der nach einem Sprung in tiefe Gewässer mit Mühe wieder an die Oberfläche kam. Er wollte ihm offenbar etwas mitteilen, aber aus seinem Mund drang kein Laut. John hatte das schockierende Gefühl, dass vor seinen Augen ein Mann in Verzweiflung ertrank.
    Er blieb noch eine Weile an Brunos Tisch stehen, wohl wissend, dass die anderen Männer ihn beobachteten. Halb rechnete er damit, dass Bruno ihm von einer schrecklichen Diagnose erzählen würde, einem unheilbaren Bauchspeicheldrüsenkrebs etwa oder irgendeinem anderen Todesurteil, das ihn in der Blüte seines Lebens ereilte. Bruno war aber nicht in der Lage, über sein Leid zu sprechen, stattdessen senkte er den Kopf und musterte wieder seine Hände, als wären sie der Schlüssel zu seinem Unheil. Vielleicht versuchte er, einen äußerst verschlungenen Knoten zu lösen, einen seltsamen Knoten aus Knöcheln und Gelenken, ein unentwirrbares Gebilde. John musste an ein altes Fingerspiel denken, das seine Mutter mit ihm gespielt hatte, als er ganz klein war: Es krabbelt am Füßchen, es kitzelt an den Knien, da kribbelt die Krabbe, wo krabbelt sie hin? Der harmlose Kinderreim bekam auf einmal einen düsteren Unterton.
    Â»Ruhig Blut, Bruno«,

Weitere Kostenlose Bücher