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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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überwältigt, vom Wärmeschwall, den sie in Leib und Seele spürte. Die Wärme stammte von dem anderen Lebewesen in ihr. Sie hatte es empfangen. Das Kind war bei ihr. Sie fing an zu weinen. Hätte sie John doch nur wecken können, um ihm davon zu erzählen! Bald hätte sie ihr kleines Mädchen an ihrer Seite. Sie konnte förmlich sehen, wie ihre Großmutter sie anlächelte. Alles hatte sie riskiert, um ihr Kind vor dem Nichtsein zu bewahren. Nun gab es keinen Raum mehr für Reue oder Zweifel. Sie würde jedes Hindernis überwinden, das ihr den Weg verstellte, ihrer Tochter zuliebe würde sie stark sein. Sabiha weinte vor Erleichterung, vor Dankbarkeit, sie weinte, weil sie ihr Glück nicht fassen konnte. Zu guter Letzt würde sie doch noch Mutter werden. Sie dachte an jene längst vergangene Sommernacht mit John zurück, als sie glaubte, das Kind empfangen zu haben. Für sie handelte es sich heute um das gleiche Kind wie damals. Es war immer nur dieses eine Kind gewesen. Ihr Kind.
    Sie legte beide Hände flach auf den Bauch und schloss die Augen. Sie wollte Freitag abwarten, den Tag, an dem ihre Periode hätte einsetzen sollen, danach vielleicht noch eine Woche, bevor sie zum Arzt ging, um es sich bestätigen zu lassen. Aber sie hatte bereits die Gewissheit, dass sie die Zeichen richtig deutete.
    Â»Ich bin Mutter«, flüsterte sie. Was konnte jetzt noch passieren? Sie würde umgehend nach Hause fahren, um ihren Vater zu sehen. Er war in der Nacht nicht gestorben. Sie würde an seinem Bett sitzen und seine Hände auf ihren Bauch legen. Diese starken Hände, die sie gehalten hatten, als sie ein kleines Mädchen war und der stille Heldenmut ihres Vaters die Welt zu einem sicheren Ort machte. Sie hatten sich gegenseitig bestärkt. Wie ungestüm sie ihn als Kind geliebt hatte. Wie sehr sie ihn bewundert hatte. Sie konnte sich so gut in ihn hineinversetzen, dass sie manchmal den Eindruck hatte, sie und er wären eins. Ihr geliebter Vater. Noch nie hatte sie so fest an die Fortdauer ihrer Ahnen geglaubt. Wenn sie an den baldigen Tod ihres Vaters dachte, war sie davon überzeugt, dass seine Stimme weiterleben würde, wie die der anderen. Irgendwo in den Weiten des Alls. In der geheimnisvollen, unheimlichen Stille. Wie konnte es anders sein? Die Stimme ihrer Großmutter hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Sabiha hatte sich den Ruf nicht eingebildet.
    Mit dem Kind, das in ihrem Bauch heranwuchs, wollte sie zu ihrem Vater fahren, und dann wären sie für kurze Zeit alle drei in ihrer alten Heimat vereint. Danach würde sie ihren Vater freigeben, damit er diese Welt verlassen konnte. Schlug in ihrer Brust nicht auch das Herz ihres Kindes? Sabiha konnte ihren Vater lächeln sehen, während er die Hände auf ihren Bauch legte und die Augen schloss. Das neue Leben unter seinen Händen pulsieren fühlte. Nun, da sie ihr Kind erwartete, war sie sicher, dass der Tod ihres Vaters nicht sein Ende bedeutete.
    Sabiha schlief ein. Und als sie wieder aufwachte, fing sie an, sich unmögliche Fragen zu stellen, Fragen, auf die sie noch keine Antwort hatte. John musste es als Erster erfahren. Und sollte sie Bruno erzählen, dass er der Vater ihres Babys war? Inzwischen kam ihr Bruno zu labil, ja sogar kindisch vor. In ihren Augen war er nicht mehr der Mann mit der vollen Punktzahl. Weißt du eigentlich, dass Bruno elf Kinder hat? Wenn John sie an diesem Tag nicht provoziert hätte, wäre das Ganze nie passiert. Die Retourkutsche war unvermeidlich gewesen. John hatte ihre Geduld zu sehr strapaziert, und sie wollte lieber einen eigenen Weg beschreiten. Wieder fühlte sie die gewaltige Woge von Energie, die sie damals durchströmt hatte. Von da an hatte sie gewusst, dass sie die Sache entweder selbst in die Hand nehmen oder sich für immer mit ihrer Kinderlosigkeit abfinden musste. Jetzt war sie am Ziel. Sie trug ihr Kind sicher im Bauch. Warum hatte sie dann solche Angst?
    Sabiha drehte den Kopf und sah John an. Ob sie ihm alles erzählen würde, von Anfang an? Wie sollte sie mit den Widersprüchlichkeiten ihres Lebens umgehen? Im Dunkel der Nacht erkannte sie, dass die Gefahren, die ihr bevorstanden, noch größer waren als alle, die hinter ihr lagen. Das Kind war, genau wie der Tod des Löwen, ein Anfang, es war nicht das Ende. Sie war noch längst nicht am Ziel.
    Als sie John betrachtete, hatte sie den Eindruck, dass

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