Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
Vom Netzwerk:
sich, ihm niemals ein Sterbenswörtchen zu verraten, und dann war sie auf einmal bereit, ihm alles zu erzählen. Sie konnte sich auf nichts mehr verlassen, hatte keinen festen Grund mehr unter den Füßen. Sie war völlig durcheinander. John zu belügen erschien ihr plötzlich noch viel schlimmer, als ihn mit Bruno zu betrügen. Wie konnte man einen Menschen belügen, den man liebte? Der einem vertraute? Was für eine Niedertracht! Vor Beklemmung konnte sie kaum atmen.
    Sie spürte das Gewicht seiner Hand durch die Decke hindurch. Irgendwann ließ er sie mit einem letzten Tätscheln los, und Sabiha hörte ihn eine Seite umblättern. Er räusperte sich. Das tat er immer, wenn zwischen ihnen peinliches Schweigen herrschte. Es beruhigte ihn, stellte die Überzeugung wieder her, dass alles in Ordnung oder zumindest auf dem besten Weg war. Das immerhin wusste sie mit Gewissheit. Er würde von ihr keine Erklärung fordern. Er würde es ihr überlassen, den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem er sich ihr wieder ganz und gar nähern durfte. Und was würde sie tun, wenn er nicht länger warten wollte? Wenn er sie zwang, ihm ins Gesicht zu sehen, und ihr mitteilte, dass er ihr unerklärliches Verhalten nicht länger dulden werde? Aber das würde niemals passieren. Er würde sich so rücksichtsvoll zeigen wie immer und ihr nur dann Fragen stellen, wenn sie es zuließ. Bei John war sie in Sicherheit. John würde sich gedulden. Darauf konnte sie sich verlassen. Doch für wie lange würde er sich gedulden? Für ein Jahr? Für immer? Ja, es war durchaus möglich, dass John sich für immer gedulden würde. Dass es ihm lieber wäre, ahnungslos zu sterben, als ihr auf irgendeine Weise wehzutun. Zwar schliefen sie nach wie vor im selben Bett, aber sie hatte ihn im Stich gelassen.
    Als es unter ihr plötzlich laut knackte, fuhr sie zusammen.
    Â»Das ist doch nur die Treppe, Liebling. Du kannst ganz beruhigt schlafen.«
    Irgendwo jaulte eine Katze kurz auf.
    Draußen auf der Straße war es totenstill.
    Sabiha lauschte angestrengt. Kein Laut war zu hören. Als hätten sich alle aus dem Viertel geschlichen und sie und John allein zurückgelassen, weil sie die Warnung nicht gehört hatten: Zu bleiben wäre der sichere Tod. Wenn sie jetzt einschliefe, würde sie Alpträume bekommen, sie lauerten schon, das fühlte sie. Ihr fiel ein, wie sie sich als Kind manchmal dazu gezwungen hatte, sich wach zu halten, für den Fall, dass nachts eine Bestie käme und sie entführte. Die Bestie war gekommen. Ihr war nicht mehr zu helfen. Sie hatte Angst vor dem braven Bruno.
    Â»Weinst du etwa, mein Schatz?«, fragte John sanft.
    Â»Nein«, schniefte sie.
    Nach einer Minute blätterte er die nächste Seite um.

S abiha wachte in tiefster Nacht auf. Sie blieb liegen und lauschte der Stille. Hatte sie ein drängender Ruf aus dem Schlaf gerissen? Alles war ruhig. Die Vorhänge waren vom dürftigen Licht der einsamen Straßenlaterne an der Ecke gesäumt. Neben ihr schnarchte John leise. Die Straße war friedlich. Kein einziger Hund war zu hören. Nichts. Nur das gleichmäßige Surren der Nacht. War ihr Vater gestorben und hatte ein letztes Mal nach seiner Tochter gerufen? Bei dieser Vorstellung überlief es sie kalt. Wie er nach seiner Lieblingstochter rief, die so weit entfernt war, für ihn unerreichbar, wie er sich Vorwürfe machte, weil er sie verloren hatte, wie er bedauerte, sie all die Jahre zuvor zu seiner Schwester geschickt zu haben, damit sie Houria unterstützte. Ihr Vater, dessen letzter Atemzug ihr galt, der sich danach sehnte, ihre Hand zu halten, ihre Lippen an seiner Stirn zu spüren. Ihren süßen Atem zu riechen. Ihr innig geliebter Vater. Warum hatte Zahira sie nicht angerufen? Sabiha bereute bitterlich, dass sie nicht nach Hause gefahren war. Nun würde sie ihren Vater nie wiedersehen.
    Dann wurde ihr schlagartig klar, dass der Ruf nicht von ihrem Vater gekommen war, sondern von ihrer Großmutter! Sabiha befühlte ihre Brüste unter dem Nachthemd. Sie taten ein bisschen weh, und die Warzen waren hart. Es war anders als sonst vor ihrer Periode, keine vorübergehende Empfindlichkeit, sondern erste Anzeichen einer dauerhafteren Entwicklung. Dessen war sie sich sicher. Es war ein nie gekanntes Gefühl. Sie war schwanger, sie wusste es!
    Sabiha rang nach Luft, von ihren Empfindungen

Weitere Kostenlose Bücher