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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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Männer immer allein sind. Männer sind anders als wir Frauen, dachte sie. Die Einsamkeit ist Teil ihres Wesens. Im Grunde ihres Herzens bleiben Männer ein Leben lang allein. Auch wenn sie sich noch so sehr geliebt fühlen, bleiben sie stets Einzelgänger. Wir Frauen dringen nicht zum Kern ihres Wesens vor. Während John neben mir schläft, ist er allein. Und wenn er liest, ist er ebenfalls allein. In seinen toten alten Büchern sucht er nach dem Echo der eigenen Einsamkeit, möchte sie durch die Gedanken anderer Männer gespiegelt und bestätigt sehen. Und wenn er fündig wird, sagt er sich zufrieden: Da! Wusste ich’s doch. Und wenn er zu viel Wein trinkt, nimmt er seine Einsamkeit als gegeben an, wie eine verdiente Strafe. Und wenn er mit André zum Angeln auf die Seine hinausfährt und sie sich freundschaftlich austauschen, sind sie beide im Grunde ihres Herzens allein, das wissen sie und es quält sie, darum können sie nicht offen miteinander sprechen. Diese Unaufrichtigkeit rankt sich um die Gedanken, die sie austauschen, sie rankt sich um ihre Freundschaft und frustriert sie beständig, und so ziehen sie sich jeweils in sich selbst zurück, um das Quäntchen Trost zu finden, das ihnen ihre Einsamkeit gewährt. Sie ist die einzige Gewissheit, die ein Mann gelten lässt. Und das ist der Unterschied zwischen ihnen und uns.
    Denn die Frau, die ein Kind in sich trägt, ist nicht allein. Der Mann hat keinen inneren Gefährten. Immerzu strebt er nach dem, was er nicht haben kann. Er ist nie zufrieden. Die werdende Mutter hingegen hat einen inneren Gefährten. Eine Frau ist kein Einzelwesen, dachte sie. Anders als der Mann, er ist und bleibt ein Einzelwesen. Bruno bildet sich nur ein, dass er zu einem neuen Mann geworden ist, während ich jetzt tatsächlich eine neue Frau bin. Die Wirklichkeit wird Brunos Illusion zerstören und ihn vereinsamt und verzweifelt zurücklassen. Meine Mutterschaft aber wird zeigen, dass ich mich wirklich verändert habe.
    John und Bruno taten Sabiha leid, auch der törichte alte André und überhaupt alle Männer – sogar ihr Vater. Sie waren alle wie Kinder, dachte sie, nicht nur Bruno. Männer treffen niemals auf den Seelenbruder, den sie sich erträumen. Den ersehnten Helden. Auf der Suche nach Sinn, nach bedeutsamer Ergänzung tauchen sie in ihr Innerstes hinab und finden dort nur sich selbst.
    Diesen und anderen Gedanken hing Sabiha nach, bis sie schließlich wieder einschlief. Sie träumte von einem son nenbeschienenen reifenden Weizenfeld im Medjerda-Tal. Es fing an wie ein schöner Traum. Sie war noch ein Mädchen und folgte ihrer Großmutter, die, ganz in Schwarz gekleidet, durch das goldene Feld schritt. Sabiha beeilte sich, sie wollte ihre Großmutter einholen, um ihr eine herrliche Blume zu zeigen, die sie inmitten der Weizenhalme gefunden hatte. Nach einer Weile wurde ihr klar, dass sie es nicht schaffen würde, egal, wie schnell sie rannte, und egal, wie langsam ihre Großmutter ging – unendlich langsam. Das Mädchen kämpfte so erbittert gegen die Kräfte an, die sie zurückhielten, dass Sabiha erschrocken aus dem Schlaf fuhr.
    Hellwach lag sie da, ließ ihren Traum Revue passieren und hatte das Gefühl drohenden Unheils.
    Erst dann stellte sie fest, dass John nicht mehr neben ihr lag.
    Sie hörte seine Schritte auf der Treppe und roch den frisch gebrühten Kaffee. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Auf einmal kam ihr wieder in den Sinn, dass sie schwanger war. Wie konnte sie das vergessen? Auch nur eine Sekunde lang? Sabiha setzte sich auf. Sie hatte es aber vergessen. Und zwar viel länger als eine Sekunde. Gern hätte sie wieder ihre Brüste betastet, um sicherzugehen, dass sie ihre Schwangerschaft nicht bloß geträumt hatte, aber da kam John schon ins Zimmer und machte das Licht an. Er brachte das Tablett mit ihren Kaffeeschalen und Keksen.
    Â»Guten Morgen, Liebling. Wie hast du geschlafen?«, fragte er und stellte das Tablett auf den Nachttisch. Danach legte er Sabiha ihren Morgenmantel um die Schultern. »Draußen ist es eiskalt. Feucht und eiskalt.«
    Als John ihr Gesicht sah, fragte er lachend: »Was ist los? Ist dir vielleicht ein Gespenst begegnet?«
    Sie brach in Tränen aus und verschüttete Kaffee über die Bettdecke.
    Er nahm ihr die Schale aus der Hand, bevor er sie an sich drückte. Sanft wiegte er Sabiha in

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