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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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hängte ihren Mantel auf und band sich die Schürze um. Durch die offene Hintertür beobachtete Andrés Katze neugierig, was in der Küche vor sich ging. Tolstoi stand weiter weg und sah auf die Gasse hinaus.
    Den ganzen Tag lauschte Sabiha auf das Telefon, aber ihre Schwester rief nicht wieder an. Abends blieb sie länger wach, stand bei ausgeschaltetem Licht im leeren Speiseraum und sah mit verschränkten Armen auf die Straße hinaus. Im Eckladen der Kavi-Brüder herrschte ein reges Kommen und Gehen. Das Viertel veränderte sich von Grund auf. Houria würde ihre Straße nicht wiedererkennen. Die indischen Brüder waren offenbar die Einzigen, die sich in dieser neuen Welt auskannten. Die Geschäfte von André und Arnoul waren zu Museen ohne Besucher erstarrt, in denen die alten Zeiten konserviert wurden. Es gab nichts Französisches mehr.
    Sie drehte sich um und starrte das Wandtelefon hinter dem Tresen an, als könnte sie es dadurch zum Klingeln bringen. Es war stumm, als hätte man die Leitung gekappt. Sabiha war drauf und dran, das zu überprüfen.
    Um elf gab sie auf. Nachdem sie sich im Badezimmer gewaschen hatte, ging sie nach oben. Falls ihr Vater gestorben wäre, hätte John das trotz allem sicher mitbekommen oder Zahira hätte sich nochmal gemeldet. Es konnte sich also nicht um seinen Tod drehen, überlegte Sabiha. Vermutlich hatte sich sein Zustand aber dramatisch verschlimmert. Es musste schon etwas Wichtiges sein, wenn ihre Schwester sich ganz allein auf den Weg zum Postamt begeben hatte, um sie anzurufen. Vielleicht hatte Zahira am Morgen nach dem Aufstehen entdeckt, dass es ihrem Vater auf einmal viel schlechter ging. Oder hatte er sie möglicherweise gebeten, Sabiha in seinem Namen anzurufen? Die Vorstellung, dass ihr Vater sie sehen wollte, wühlte sie zutiefst auf, und sie gab einen erstickten kleinen Schrei von sich. Sie wollte aber nicht weinen, noch nicht. Zu einem unbekannten Gott betete sie, dass sie diesmal schwanger sein möge. Die Begegnung war fast zwei Wochen her, doch es gab noch keinerlei Anzeichen. Nichts. Manchmal glaubte sie wirklich, sie würde sich umbringen, sollte ihre Periode wieder einsetzen. Sie hielt die Spannung kaum aus. Ihr Körper war stumm. Unverändert. Leer. Am liebsten hätte sie gebrüllt: Gebt mir mein Baby!
    Es hätte so viel einfacher sein können, wenn Bruno ein ganz gewöhnlicher zynischer Mann gewesen wäre. Was glaubte er eigentlich? Worauf wartete er? Ich sehe es kommen . Was meinte er damit? Ihre Großmutter war ihr keine Hilfe. Sie war verschwunden. In der Stille verschwunden. Wie leer und sinnlos es war, Tag für Tag, Nacht für Nacht vergeblich auf ein Zeichen zu warten.
    Sie kam sich vor wie eine alte Frau, als sie die Stufen hinaufging. Zwischendurch blieb sie stehen, stützte sich mit einer Hand am Geländer, schloss die Augen und nahm ihren ganzen Mut zusammen, um John gegenüberzutreten. Sie hatte das Gefühl, dass er Bescheid wusste.
    Er lag im Bett. Las im Schein der Nachttischlampe ein neues Buch. Benvenuto lag immer noch neben ihm, als brächte es John nicht übers Herz, sich von seinem alten Freund zu trennen. Sabiha zog sich aus. Sie brauchte nicht den Kopf zu heben, um zu wissen, dass er sie beobachtete, und mied sorgsam seinen Blick. Andernfalls müsste sie ihn wohl oder übel anlächeln, und dann würde er mit ihr schlafen wollen, wenn sie sich ins Bett legte. Schon der Gedanke war ihr zuwider. Nur sie konnte erkennen, wie zerrüttet ihre Beziehung war, und zwar durch ihre Schuld. Sie würde es ihm niemals erzählen. Er durfte niemals erfahren, was sie getan hatte. Sie zog sich das Nachthemd über und schlüpfte ins Bett.
    Â»Gute Nacht, Liebling.« Sabiha bemühte sich, eine Spur von Zärtlichkeit und Wärme in ihre Stimme zu legen. Dann schloss sie die Augen.
    John beugte sich über sie und legte seine Hand auf ihren Hüftknochen. »Ich liebe dich«, sagte er leise.
    Â»Ich liebe dich auch.« Bruno hatte recht. Sie würde niemals zu sich zurückfinden. Ihr altes Ich war in diesem Irrgarten verlorengegangen.
    John ließ die Hand auf ihrer Hüfte liegen, massierte sie leicht mit Daumen und Zeigefinger.
    Sabiha hielt die Augen geschlossen. Er sollte ihr auf keinen Fall Fragen stellen. Wenn er sie jetzt fragte, wäre sie nicht in der Lage, sich eine Lüge einfallen zu lassen, das wusste sie. Erst schwor sie

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