Sabihas Lied
seinen Armen. »Alles wird gut, mein Schatz. Keine Sorge.« Wie himmlisch ihr Haar duftete. John lächelte. Sie glich einem Kind, das aus einem Alptraum aufgeschreckt war. »Ich liebe dich über alles, mein Engel«, flüsterte er in ihr Haar.
Sabiha konnte nicht aufhören zu weinen. Als sie sich schlieÃlich wieder in der Gewalt hatte, putzte sie sich die Nase und trocknete ihre Augen. John lächelte sie aufmunternd an. Sie beschloss, ihm alles zu erzählen.
Sie wollte gerade zu sprechen anheben, als sie auf einen unüberwindbaren Widerstand stieÃ. Es war die gleiche Macht, die sie im Traum davon abgehalten hatte, ihre GroÃmutter einzuholen. Als stünde sie am Rand eines Abgrunds, ohne springen zu können. Der Selbsterhaltungstrieb war stärker als ihre Willenskraft, er hinderte sie daran, John mit der ungeheuerlichen Tatsache zu konfrontieren, dass sie Brunos Kind unterm Herzen trug. Es lieà sich einfach nicht in Worte fassen. Es wollte ihr nicht gelingen.
»Du solltest so schnell wie möglich zu deinem Vater fahren«, sagte John. »Du darfst es nicht länger aufschieben. Wenn dein Vater stirbt, bevor du von ihm Abschied nehmen konntest â¦Â« Er zuckte mit den Achseln. »Na ja, du weiÃt selbst am besten, dass du es dir niemals verzeihen würdest.« Er nahm ihre Hand und küsste sie auf die Stirn. »Du bist schon halb krank vor Sorge, das sehe ich doch. Sonja könnte für eine Woche die Küche übernehmen, wenn du ihr Bescheid gibst. Sollen sich solange ihre beiden faulen Mädchen mal um den Gewürzstand kümmern. Singen kann Sonja zwar nicht, aber dafür umso besser kochen. Sie und ich werden den Laden bis zu deiner Rückkehr schon schmeiÃen, keine Angst.«
Nach einer gedankenschweren Pause fügte er hinzu: »Von jetzt an übernehme ich die Einkaufsrunde am Freitagmorgen. Das hätte ich dir schon längst anbieten sollen. Was war ich doch für ein egoistisches Schwein, jeden Freitag einfach liegen zu bleiben und meine nutzlosen Bücher zu lesen, als ob es auf der Welt nichts Wichtigeres gäbe, während du dich jede Woche bei Wind und Wetter zu diesem elenden Markt schleppst. Ab sofort mache ich das, und ich dulde keine Widerrede.« John lehnte sich zurück und sah ihr ins Gesicht. Er wischte ihr eine Träne von der Wange. »Einverstanden? Fühlst du dich jetzt besser?«
Sabiha nickte und dankte ihm.
»Schon gut. Ich mach das gern. Es tut mir nur leid, dass ich es dir nicht früher angeboten habe.« John sah ihr in die Augen und fuhr leise fort: »Du bist eine starke Frau. Ich weiÃ, dass du es bis ans Ende des Tunnels schaffst und mit einem Lächeln wieder herauskommst.«
A ls am folgenden Nachmittag die Gäste wieder arbeiten gegangen waren und Sabiha die Küche saubergemacht hatte, betrat sie das kleine Wohnzimmer unter der Treppe, legte sich auf die Couch und wickelte sich in eine Decke. John war allein im Speiseraum, er saà am Fenstertisch und las. DrauÃen regnete es beständig im grauen Novemberlicht, die üblichen StraÃengeräusche drangen gedämpft zu ihm durch. Er hatte sich gerade eine Zigarette angezündet und blinzelte gegen den Rauch an, als André am Fenster vorbeiging, mit der Pfeife im Mundwinkel und hoch erhobenem Regenschirm, angeführt von Tolstoi. Der alte Mann nickte John zu.
Kurz darauf klingelte das Telefon. Sabiha fuhr hoch, warf die Decke beiseite und sprang von der Couch. Ihr wurde so schwindlig, dass sie sich zunächst an der Armlehne festhalten musste, bevor sie in den Speiseraum stürzte. John hatte den Hörer bereits abgenommen. Er streckte ihn Sabiha entgegen.
»Es ist Zahira«, sagte er und kehrte zu seinem Tisch zurück. Er nahm das aufgeschlagene Buch zwar wieder in die Hand, aber statt zu lesen, betrachtete er Sabiha. Sie sprach Arabisch, so dass er kein einziges Wort verstehen konnte. Sobald sie von Französisch in ihre Muttersprache wechselte, verwandelte sie sich. Es lag nicht nur am breiteren Lautspektrum, sondern auch an ihrer Haltung. Der Klang ihres tunesischen Dialekts war ihm vertraut. In seinen Ohren war er eine Art Musik. Er liebte diesen Klang, der ihm so fremd und doch nah war. Er hatte sogar einen halbherzigen Versuch unternommen, die Sprache zu erlernen. Sabiha war jedoch keine geduldige Lehrerin und er kein gelehriger Schüler. Das war in ihrem ersten Jahr gewesen, als Houria noch
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