Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
Vom Netzwerk:
kein Wort. Wusste er Bescheid?
    Sabiha hatte eine Vision. Da waren sie beide in der unkontrollierbaren Zukunft. Sie saß an seinem Bett. Er war alt; das kleine Mädchen in ihrem Bauch war in jener Zukunft bereits zur jungen Frau herangewachsen und sah ihnen von der Zimmertür aus zu. Und er, John Patterner, der innig geliebte Vater der jungen Frau, lag im Sterben. In ihrer Vision hielt Sabiha seine Hand, und er schaute zu ihr hoch.
    Und dann sagte sie leise zu ihm: »Deine Tochter, Liebster, ist nicht deine Tochter.«
    Lächelnd drückte er ihre Hand. »Das habe ich doch schon immer gewusst.«
    Wie einfach es schien, in einer strahlenden fernen Zukunft die Wahrheit zu sagen und Vergebung zu erlangen.
    Doch jetzt, in der dräuenden Gegenwart, sagte sie nur: »Ich liebe dich, John Patterner.«
    Er wischte ihr die Tränen weg, lächelte sie an und antwortete: »Ich liebe dich auch.«
    Â»Es tut mir so leid«, sagte sie.
    Er legte ihr den Arm um die Schulter und führte sie aus dem Zimmer. »Du bist müde. Du hättest längst ins Bett gehen sollen. Dir muss gar nichts leidtun, mein Schatz, und mir auch nicht. Wir haben richtig gehandelt.«

J ohn kam durch die Hintertür in die Küche. Als er Sabiha auf die Wange küsste, zuckte sie zusammen, so kalt waren seine Lippen. »Ich habe alles dabei.« Er stellte die Einkaufstasche auf die Arbeitsplatte. »Sonja kommt Montag früh her, und dann fahre ich dich zum Flughafen.« Er zog Mantel und Schal aus und hängte sie an die Haken im Flur.
    Auf dem Markt hatte Sonja ihn streng gemustert. »Was ist mit dir und Sabiha? Betrügst du sie etwa?« Sie war eine kleine stämmige Frau von Mitte fünfzig und sah so aus, als wäre sie nie etwas anderes gewesen als die robuste, füllige Mutter von zwei erwachsenen Mädchen, beide unverheiratet. Sonjas Haut war so jugendlich wie die Haut ihrer Töchter, sie hatte die Wangen und Hände eines Teenagers, samtig und weich.
    John hatte gelacht, als sie ihn das fragte.
    Â»Das war kein Witz«, erklärte Sonja daraufhin. »Ich erkenne Sabiha nicht wieder. Du solltest dich besser um sie kümmern. Eine solche Frau findest du kein zweites Mal. Bilde dir ja nicht das Gegenteil ein.« Sie wog ihre Ras-el-Hanout-Mischung aus, Sabiha zufolge die beste von Paris. »Du bleibst schön zu Hause und siehst nach dem Rechten«, ermahnte ihn Sonja. Dann reichte sie ihm die verschiedenen Gewürzpäckchen und benannte bei jedem den Inhalt, während sie Sabihas Liste überflog. Zum Schluss gab sie ihm ein großes Glas dieses aromatischen Honigs, der in französischen Läden nicht zu finden war.
    Â»Du bist kein Tunesier«, stellte Sonja fest. Als er sie fragte, wie er das auffassen sollte, wiederholte sie nur: »Du bist kein Tunesier.« Als läge es auf der Hand, was sie damit meinte. »Wir sehen uns Montag früh. Pass gut auf Sabiha auf!« Sonjas mütterliche Ader führte dazu, dass sie sich beinah für alle, die sie kannte, verantwortlich fühlte.
    Â»Hast du Bruno gesehen?«, fragte Sabiha. Der Klang seines Namens, von ihr selbst ausgesprochen, erschütterte sie.
    John trat neben sie. »Er war nicht da. Sein Stand war mit einer Plane abgedeckt.«
    Â»Und der Lieferwagen?«
    Â»Auch nicht da.« John zuckte mit den Achseln. »Sollte ich vielleicht Angela anrufen? Was meinst du? Was geht uns das eigentlich an?«
    Eine furchtbare Angst durchzuckte Sabiha. Sie musste John unbedingt die Wahrheit beichten. Sie konnte sie ihm nicht länger vorenthalten. Er durfte sie auf keinen Fall von einem anderen erfahren. Das wäre einfach entsetzlich.
    *
    Der Tag verstrich, ohne dass Sabiha ihre Beichte ablegte. Es gab so viel zu tun, und schließlich ließ ihre Panik nach. John und sie verrichteten wie gewohnt ihre Arbeit, und ehe sie sich’s versahen, war es wieder Abend und sie waren müde und reif fürs Bett. Montagmittag wäre Sabiha schon in El Djem bei ihrem sterbenden Vater und ihrer Schwester.
    Am Freitagnachmittag war sie ins Krankenhaus gegangen. Dort wartete sie zwei Stunden auf eine Untersuchung. Der Frauenarzt bestätigte ihr, dass sie schwanger war. Auf der Rückfahrt in der Métro überkam Sabiha das Gefühl einer Enttäuschung. Auch wenn sie sich sagte, dass sie endlich ihr Baby nach El Djem bringen würde, war doch alles anders als gedacht. Der Traum hatte einen Beigeschmack

Weitere Kostenlose Bücher