SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
um ihre zurückhaltende Informationspolitik zu rechtfertigen.
Christian Geyer hat die Auseinandersetzung zwischen Kanzlerin und Gericht in einem hervorragenden Aufsatz für die »Frankfurter Allgemeine« beschrieben. Er sagt, Angela Merkel erscheine im Urteil des Bundesverfassungsgerichts »als eine Art Schorschel Schachermann, jener Makler bei Donald Duck, der, seine Rechtstreue preisend, wacker dem Gesetz zuwiderhandelt«. Voll bitteren Spotts beschreibt Geyer, wie die Kanzlerin vom höchsten Gericht der Grundgesetzwidrigkeit überführt wird. Aber in Wahrheit hat die Regierung hier natürlich ein ganz altes Spiel betrieben: In der Krise sei für den Parlamentarismus leider nicht genug Zeit. Und das Verfassungsgericht hat dem in aller Schärfe widersprochen. Es hat eine Brandmauer zum Schutz der Demokratie errichtet.
Die Richter greifen sich aus dem Strom der Krisenpolitik ein paar Augenblicke heraus. Sie halten das rasende Rad der Gipfel und Treffen und Pressekonferenzen an und sehen genau hin.
Zum Beispiel der 10. März 2011, da tagte der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Die Bundeskanzlerin berichtete über das für den folgenden Tag geplante informelle Treffen der Staats- und Regierungschefs der Eurozone. Es sollte da unter anderem um den Europäischen Stabilitätsmechanismus gehen. Merkel sagte den Abgeordneten, dass noch unklar sei, ob auf dem Treffen nur der Europäische Rat vom kommenden März vorbereitet werde oder ob auch Beschlüsse gefasst würden. Sie vertrat außerdem den Standpunkt, dass sie den Bundestag über solche informellen Treffen ohnehin nicht unterrichten müsse.
Mit kriminalistischer Genauigkeit beschreibt das Gericht den Moment: »Auf die Rüge eines Abgeordneten, das Parlament habe auf der Grundlage der Unterrichtungspraxis der Bundesregierung keine ausreichende Möglichkeit, die Entscheidungen zum Themenkreis der Eurostabilisierung nachzuvollziehen, erklärte die Bundeskanzlerin, die gegenwärtige Situation sei aufgrund täglicher Änderungen der Umstände und Tatsachen einzigartig, so dass die Bundesregierung dem Parlament nur Informationen mit einer ›endlichen Halbwertszeit‹ geben und für den Europäischen Rat am 24./25. März 2011 lediglich Ergebnisoptionen benennen könne. Die Bundesregierung unterrichte den Deutschen Bundestag über die Sitzungen der Euro-Gruppe. Jedoch müssten bestimmte interne Beratungen, die von besonderer Marktrelevanz seien, differenziert behandelt werden.«
Im Wesentlichen hatte die Bundeskanzlerin den Abgeordneten also gesagt, dass sich die Dinge in der Politik so schnell entwickeln, dass für demokratische Verfahren manchmal einfach die Zeit fehle. Das Bundesverfassungsgericht greift das Kanzlerinnenwort von der »endlichen Halbwertszeit« auf, nicht ohne Sarkasmus. Es schreibt:
»Die Bundesregierung ist verpflichtet, dem Bundestag nicht nur einen abschließend beratenen oder sogar bereits beschlossenen Vertragstext zuzuleiten. Sie muss ihm zum frühestmöglichen Zeitpunkt ihr vorliegende Zwischenergebnisse und Textstufen – wie den auf den 6. April 2011 datierenden ›Draft Treaty Establishing the European Stability Mechanism (ESM)‹ – übermitteln. Dass sich Entwürfe ändern und daher Aktualisierungen erforderlich werden, solche Informationen mithin ›eine kurze Halbwertszeit‹ aufweisen können, rechtfertigt es nicht, die schriftliche Unterrichtung auf einen Zeitpunkt zu verschieben, in dem die Ergebnisse bereits feststehen. Denn damit wird der Bundestag gerade in jene für völkerrechtliche Verträge charakteristische Ratifikationslage gebracht, die ihm eine inhaltliche Einflussnahme abschneidet und vor der ihn Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG schützen will.«
Auch die übrigen Schutzbehauptungen der Regierung zerfetzen die Richter in der Luft. Dazu gehörte die Idee, Eurofragen seien streng genommen gar keine Angelegenheiten der Europäischen Union und fielen darum auch nicht unter den für Europa erdachten Artikel 23. Ebenso wenig ließen die Richter das Argument gelten, solange der gewissermaßen flüssige Meinungsbildungsprozess der Regierung sich im Kabinett noch nicht verfestigt habe, müsse auch der Bundestag nicht informiert sein. Das las sich so, als verträten Merkels Anwälte den Standpunkt, da die Kanzlerin ihre eigenen Minister nicht über ihre europapolitischen Absichten auf dem Laufenden halte, müsse sie auch die Abgeordneten nicht informieren.
Besonders gefährlich für den demokratischen Prozess
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