SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
und Weise stand auch der Westen unter dem Konkurrenzdruck des anderen Systems, auch wenn hier kein Gedanke ferner gelegen hätte. Eine »Abgrenzungsrealität« hat Oskar Negt die Sowjetunion genannt. Und in einer traurigen historischen Perversion haben die Panzer und Raketen des Ostblocks in Wahrheit vor allem die westliche Demokratie verteidigt, und zwar gegen ihre Feinde in den eigenen Reihen.
Ohne diese Verteidigung hat in erschreckendem Tempo eine Degradierung der Demokratie stattgefunden. Und zwar – ein vielleicht zwangsläufiges Paradox – gleichzeitig mit ihrer allgemeinen Ausbreitung. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown hat sich in einem Essay mit diesem sonderbaren Phänomen auseinandergesetzt. »Das Lob der Demokratie wird heute nicht nur rund um den Globus, sondern auch durch das gesamte politische System hindurch gesungen. Gemeinsam mit den Systemveränderern aus der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges, ehemaligen Sowjetbürgern, die noch in unternehmerischer Glückseligkeit schwelgen, Avataren des Neoliberalismus und unerschütterlichen Liberalen ist auch die euro-atlantische Linke von der Marke hingerissen. ... Berlusconi und Bush, Derrida und Balibar, italienische Kommunisten und Hamas – wir sind jetzt alle Demokraten. Aber was ist von der Demokratie übriggeblieben?« 14
Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach könnte dazu etwas sagen. Er hat erfahren, was es bedeutet, sich mit dem demokratischen Argument gegen den vermeintlichen Sachzwang zu stellen. Als es im Herbst 2011 um den Euro-Rettungsschirm ging, kündigte Bosbach seinen Widerstand an.
Landesvertretung von Nordrhein-Westfalen, an einem Montagabend Ende September: Es ist übliche Praxis, dass die Abgeordneten wichtige Abstimmungen vorher üben, damit im entscheidenden Augenblick nichts schiefgeht – also niemand aus dem Ruder läuft. Bosbach hatte angekündigt, mit Nein zu stimmen, aus Gewissensgründen, gegen die eigene Kanzlerin. Er hält Wort. Beim Hinausgehen zischt ihm Kanzleramtsminister Ronald Pofalla zu: »Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen. Du redest ja doch nur Scheiße.« Pofalla geht weiter, dreht sich noch mal um und schimpft weiter: »Du machst mit deiner Scheiße alle Leute verrückt.« Bosbach antwortet: »Ronald, guck bitte mal ins Grundgesetz, das ist für mich eine Gewissensfrage.« Aber Pofalla geht zu seinem Dienstwagen, ruft noch: »Lass mich mit so einer Scheiße in Ruhe« und fährt davon. Pofalla hatte sich nicht einmal die Mühe gegeben, sich mit seinen Beschimpfungen angesichts der vielen Zeugen zurückzuhalten. Der Ausbruch des Merkel-Vertrauten zog viel Aufmerksamkeit auf sich. Für einen kurzen Moment wurde hier einmal der Schleier der Konvention vom Getriebe der Macht und der Mächtigen gelüftet. Und der furchtbare Irrelevanzverdacht, in den der moderne Kapitalismus das parlamentarische Gefüge gebracht hat, wurde bestätigt. »Schon in Deutschland kann, wer als frei gewählter Abgeordneter seinem Gewissen folgt, sicher sein, das man seine ›Fresse‹ nicht mehr sehen will« 15 , schrieb Frank Schirrmacher dazu, und mit Blick auf Griechenland fügte er hinzu: »Was Wolfgang Bosbach als Subjekt widerfuhr, trifft nun einen Staat, und wenn es so weitergeht, bald ganz Europa.«
Die Demokratie ist in Frage gestellt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich der Kult der Märkte die Demokratie selbst zum Ziel nimmt. In der Krise kam dieser Moment. Warum musste sich der Bundestag sein Recht zur Mitsprache am Euro-Rettungsschirm vor dem Bundesverfassungsgericht erstreiten? Warum schlug dem griechischen Premier Empörung entgegen, als er seinem gezeichneten Volk in einer Volksabstimmung die demokratische Würde zurückgeben wollte? Weil man auf den Märkten ohne demokratisches Gezänk seinen Geschäften nachgehen möchte.
Wendy Brown hat dazu geschrieben: »Es geht nicht einfach darum, dass vermögende Konzerne Politiker kaufen und offenkundig die Innen- und Außenpolitik eines Landes mitgestalten ... Die großen Demokratien zeichnen sich heute weniger durch eine Überschneidung als vielmehr durch eine Verschmelzung von staatlicher und unternehmerischer Macht aus: Staatliche Aufgaben von Schulen über Gefängnisse bis hin zum Militär werden in großem Stil outgesourct; Investmentbanker und Konzernchefs fungieren als Minister und Staatssekretäre; auch wenn sie die entsprechenden Fonds nicht selbst verwalten oder anlegen, sind Staaten doch Eigentümer unvorstellbar großer Mengen an
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