SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Seiten der Bundesregierung verbunden. Dabei entsteht mit jedem Erkenntnisgewinn der Bundesregierung zunächst eine Informationsasymmetrie im Verhältnis zum Bundestag, die – soll die verfassungsrechtliche Vorgabe einer ›umfassenden‹ Unterrichtung nicht wirkungslos bleiben – grundsätzlich ausgeglichen werden muss. Diese Pflicht zum Ausgleich von Informationsungleichgewichten zwischen Bundesregierung und Bundestag verdichtet sich mit zunehmender Komplexität und Bedeutung eines Vorgangs sowie mit der zeitlichen Nähe zu einer förmlichen Beschlussfassung oder zum Abschluss einer Vereinbarung.«
Je wichtiger der Sachverhalt, umso dringender ist es, dass die Politik Herrin des Verfahrens bleibt. Es sind nicht die Sachzwänge, die den demokratischen Prozess bedrohen. Es ist die neoliberale Ideologie, die sich die Sachzwänge zunutze macht.
Im August 2012 gab Italiens Ministerpräsident Mario Monti dem »Spiegel« ein Interview, in dem er einen denkwürdigen Satz äußerte. Es habe natürlich jedes Land der Europäischen Union ein Parlament und ein Verfassungsgericht, sagte Monti. Und jede Regierung müsse sich natürlich nach den Entscheidungen des Parlaments richten: »Aber jede Regierung hat auch die Pflicht, das Parlament zu erziehen.« War Monti bewusst, was er da sagte? Die Reaktion deutscher Politiker war eindeutig: Europas Problem sei nicht zu viel, sondern zu wenig Demokratie. Monti taugt kaum als Feindbild für Antikapitalisten. Er ist kein Mann der Wirtschaft und kommt nicht aus der ökonomischen Gegenwelt des Politischen. Dennoch ist auch er in solchen Gegenwelten zu Hause: an der Universität und in der Verwaltung. Als Experte und Technokrat hat er die italienische Politik vor sich selber retten müssen. Das ist noch das Beste, was ihr passieren konnte nach der Dekadenz der Berlusconi-Jahre. Immerhin ist Monti bei Goldman Sachs nur Berater – er war dort nie Vorstandsmitglied wie sein Landsmann Mario Draghi, der jetzt Chef der Europäischen Zentralbank ist.
Wenn man so will, war Monti das freundliche Gesicht der Entdemokratisierung. Das ist ein Prozess, der in der Krise besonders sichtbar wurde. Aber die Krise hat ihn nicht ausgelöst. Die ganze Gestalt des wohlwollenden Technokraten Monti ist ein Beleg für die These des französischen Philosophen Jacques Rancière, der gesagt hat: »Die Demokratie im Sinne der Volksherrschaft, als Herrschaft derer, die weder einen besonderen Anspruch auf ihre Ausübung noch eine spezifische Eignung dafür besitzen, macht Politik überhaupt erst denkbar. Wenn die Herrschaft wieder in die Hände der Geschicktesten, Stärksten, Reichsten gelangt, findet keine Politik mehr statt.« 13 Und es ist der Hochmut des Stärksten, der sich in einer Verächtlichmachung der Demokratie äußert. Auch dafür ist der vielleicht unfreiwillige Ausbruch Montis ein Beispiel. »Im Gegensatz zur Zeit des Kalten Krieges, in der man die Demokratie dem Totalitarismus klar gegenüberstellte«, sagt Rancière, »lässt sich seit dem Fall der Mauer in den sich als ›Demokratien‹ bezeichnenden Ländern viel eher eine Art Misstrauen, eine versteckte oder offene Verächtlichkeit gegenüber der Demokratie beobachten.«
Hier erhebt sich das auf Effizienz gerichtete Denken der Experten. Und es ist das auf demokratische Verfahren, auf Gerechtigkeit, auf sozialen Ausgleich gerichtete Denken, das zum Ziel der Verächtlichkeit wird. In dieser Verächtlichkeit liegt der Hochmut des vermeintlich Stärkeren. Denn es ist einer bewusst vorgenommenen Verschiebung der Begriffe zu verdanken, dass wir vergessen haben: Demokratie ist nicht dasselbe wie Freiheit. Das ist das Argument von Rousseau: Die Herrschaft der Stärksten muss nicht in die Form des Rechts gekleidet werden. Der Politiker und Theologe Jean-Baptiste Lacordaire hat diesem Gedanken Worte gegeben: »Entre le fort et le faible, entre le riche et le pauvre, entre le maître et le serviteur, c’est la liberté qui opprime et la loi qui affranchit.« Es ist die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das Schutz gewährt. Die Herrscher der Exekutive und die Märkte bringen die Schwäche der Demokratie als Entschuldigung vor: Sie brauche zu viel Zeit, sie bringe nicht die besten Ergebnisse. Aber die Wahrheit ist, dass beide sich den Fesseln des Gesetzes entziehen wollen.
Und Rancière hat natürlich recht: Es war der Fall der Mauer, der es den Märkten erlaubte, sich zu den Herren der Welt aufzuschwingen. Auf eine sonderbar neurotische Art
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