SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
war das Argument der Kanzlerin, es »müssten bestimmte interne Beratungen, die von besonderer Marktrelevanz seien, differenziert behandelt werden«. Der »Markt« ist als Akteur im Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland offiziell nicht vorgesehen. Tatsächlich muss man sich fragen, ob er nicht längst zum wichtigsten Akteur geworden ist. Es ist nicht so, dass die Regierung diesem Thema auswiche. Im Juni 2010 sagte Merkel auf einem Kongress zur Finanzmarktregulierung: »Als Politiker müssen wir den Anspruch haben, dass wir den Gestaltungsrahmen setzen und dass wir nicht immer Getriebene von irgendwelchen Marktkräften sind.« Und im Oktober 2011 sagte sie auf einer IG-Metall-Konferenz, dass es Aufgabe der Politik sei, den Märkten Leitplanken zu errichten: »Sonst beherrschen die Märkte uns; und das wird nicht gutgehen.«
In der Öffentlichkeit blieb aber ein anderes Zitat der Kanzlerin hängen, nämlich das von der »marktkonformen Demokratie«. Als zum Beispiel SPD-Chef Sigmar Gabriel im März 2012 den Unterschied zwischen Konservativen und Sozialdemokraten erklären wollte, verwies er auf dieses Zitat: »Das ist der Satz von Frau Merkel, in dem sie sagt, sie sei für eine marktkonforme Demokratie. Wir glauben, das Gegenteil ist richtig: Wir müssen demokratiekonforme Märkte schaffen.« In dieser genauen Kombination hat Merkel die Worte allerdings nie gebraucht. Als ihr portugiesischer Kollege Pedro Passos Coelho im Jahr 2011 zu Besuch war, wurde die Kanzlerin gefragt, ob eigentlich der Euro-Rettungsschirm seine Aufgabe erfüllen könne, wenn vor jeder Entscheidung alle beteiligten Parlamente befragt würden. Keine leichte Frage. Merkel antwortete: »Wir leben ja in einer Demokratie und sind auch froh darüber. Das ist eine parlamentarische Demokratie. Deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments. Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben.« Da hatte sie den Schlamassel: Parlamentarismus in einen Gedankenzusammenhang mit Marktkonformität zu setzen war nicht sehr geschickt. Aber das gesprochene Wort war noch nie das Medium der Kanzlerin.
Sigmar Gabriel, der mit Worten sehr viel besser umgehen kann, schmiedete auf einem SPD-Parteitag aus den Bestandteilen der Merkel-Rede die Phrase der »marktkonformen Demokratie« und hängte sie der Kanzlerin um. Und sie blieb hängen. Weil sich in diesen Worten, auch wenn sie so nie gesagt worden waren, die tiefere Wahrheit nicht nur der Merkelschen, sondern der gesamten westlichen Politik entlarvte.
Ja, die Regierungen stehen unter Druck. Das Netz, der Hochfrequenzhandel, die inzwischen vollkommene globale Interdependenz haben die Spielräume staatlichen Handelns verändert. Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle hat in einem Interview gesagt: »Eigentlich brauchte die Politik mehr Momente der Entschleunigung, Reflexionsschleifen, um über grundlegende Entscheidungen nachzudenken, aber auch, um bereits getroffene Entscheidungen zu evaluieren.« Eigentlich brauchte die Politik also mehr Zeit. Aber sie kann sich diese Zeit nehmen. Das Gericht sagt, sie muss sich diese Zeit nehmen. Also stellt sich das Verfassungsgericht an ihrer statt mit seiner ganzen rechtsphilosophischen Masse in den reißenden Ereignisstrom und gibt dem demokratischen Entscheidungsprozess die notwendige Deckung. Auf die Bitte des Gerichts hat Bundespräsident Gauck im Sommer 2012 die Unterschrift unter die Gesetze zum ESM-Rettungsschirm verweigert. Ganz einfach, weil das Gericht um mehr Zeit gebeten hatte, sich in die Materie einzuarbeiten. Ein Signal an die Märkte, dass die Politik das Heft des Handelns in der Hand behalten kann, wenn sie nur will.
In ihrem Urteil schrieben die Richter: »Rechtsetzungsakten der Europäischen Union und intergouvernementalen Vereinbarungen gehen regelmäßig komplexe und langwierige Abstimmungsprozesse voraus. Die Bundesregierung kann dem Bundestag dabei nur die ihr selbst jeweils vorliegenden Informationen zuleiten, so dass die Pflicht zur umfassenden Unterrichtung nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen ist. Wissensstand und Haltung der Bundesregierung im Hinblick auf einen Vorgang bleiben im Regelfall nicht gleich, sondern sind im Laufe der Zeit Veränderungen unterworfen. Mit zunehmender Konkretisierung eines Vorhabens ist jedoch typischerweise auch eine Zunahme der Informationsdichte auf
Weitere Kostenlose Bücher