SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Parteivorliebe: Die Wähler von Union, FDP und Linkspartei finden eher als Sozialdemokraten und Grüne, dass die Europäische Union Deutschland zu teuer zu stehen komme. Grüne und Liberale haben weniger gegen die Zuwanderung als die Anhänger der anderen Parteien. Unionswähler, Liberale und Linke haben am meisten Angst vor dem Islam. Und was die Ablehnung des Euro angeht, übertreffen die Anhänger der Linkspartei den Rest der Befragten bei weitem. Ähnlich sieht es aus, wenn man zwischen Ost- und Westdeutschen unterscheidet. Im Osten finden europaskeptische und antimuslimische Aussagen um mindestens ein Drittel mehr Zustimmung als im Westen.
Das bedeutet: Außer den Grünen sind alle deutschen Parteien mit dem rechten Virus infiziert. Da erklärt sich dann auch, warum die SPD auf den Ausschluss Sarrazins verzichtet hat: Angst vor den rechtspopulistischen Strömungen in der eigenen Partei. Allerdings war das für die SPD vielleicht überlebensnotwendig: Sarrazin hätte den Lafontaine von rechts machen können. Die Gründung einer rechtspopulistischen Partei hätte der SPD einen großen Teil des rechten Flügels abgeschlagen. Dann wäre aus der damaligen 23-Prozent-Partei SPD schnell eine 13-Prozent-Partei geworden.
Auch die FDP, die nach einer neuen Identität sucht, muss sich vor dem rechten Bodensatz hüten, der als Abfallprodukt von der Umwandlung einer einst bürgerliberalen Partei in einen neoliberalen Selbstbedienungsladen übriggeblieben ist. Und auch bei der Linkspartei ist die emanzipatorische Rhetorik der Parteiführung meilenweit entfernt von der Wirklichkeit der Anschauungen an der Parteibasis.
Der Rechtspopulismus ist längst eine bestimmende Kraft in Europa. Von Norwegen bis Italien, von Finnland bis Frankreich sitzen rechtspopulistische Parteien mittlerweile in mehr als 15 nationalen Parlamenten. Und sie nehmen Einfluss: Dänemark führte eine Zeitlang die Grenzkontrollen wieder ein, um Wirtschaftsflüchtlinge und »Kriminelle« aus Osteuropa zu stoppen.
In Deutschland wurden Forderungen laut, den gleichen Weg einzuschlagen.
Die Parteien kommen ihrem Erziehungsauftrag nicht nach, den ihnen das Grundgesetz gibt: Mitwirkung an der politischen Willensbildung bedeutet auch, den Bürgern unbequeme Wahrheiten zu sagen. Mit erstaunlicher Mühe setzten sich Politik und Medien für den Euro ein – weil die Wirtschaft hinter diesem Projekt stand. Nicht weniger wichtig aber wäre aus politkulturellen Gründen ein ausgeglichenes Verhältnis zum Islam und aus demographischen Gründen eine tatkräftige Zuwanderungspolitik. Leider versagen zu viele Politiker und Medien aus Angst vor dem Ressentiment der Bevölkerung.
Die Deutschen haben sich in den vergangenen Jahren an ein positives Selbstbild gewöhnt. Frei von den Schatten der Vergangenheit. Sie haben dabei die Gefahren der Gegenwart übersehen. Eine Immunität gegen rechts hat ihnen die Nazizeit nicht eingebracht. Man braucht keinen verworfenen deutschen Volkscharakter unterstellen, um sich über deutsche Anfälligkeit für rechtes Gedankengut Sorgen zu machen. Es ist schon schlimm genug, wenn die Deutschen hier keinen Deut besser sind als ihre Nachbarn.
»Deutsche Zustände« – mit diesem schillernden Marx-Wort hat der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer eine Langzeitstudie überschrieben, die er sich zu Beginn des Jahrzehnts vornahm. Seit dem Jahr 2002 messen Heitmeyer und seine Mitarbeiter jedes Jahr, wie menschenfreundlich die Deutschen sind. Nicht mehr und nicht weniger. Ein ungewöhnliches Projekt. »Jede Gesellschaft tut gut daran, für Selbstaufklärung zu sorgen«, schrieb Heitmeyer damals, »erst in der Konfrontation mit ihrer vielfachen verdrängten oder geschönten Realität erhält sie die Chance, sich dem Ausmaß der Verwirklichung ihrer grundlegenden Wertvorstellungen zu vergewissern.« Heitmeyers Interesse galt der deutschen Liberalität. Nicht gerade eine typisch deutsche Eigenschaft. Toleranz, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Respekt, Zivilität – all das läuft zusammen in diesem sonderbar unwissenschaftlichen Wort, das aber gerade darum passend und schön ist: Menschenfreundlichkeit.
Der Ansatz war spannend und erhellend. Denn er ging über die üblichen Stimmungsmessungen gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen hinaus. Es entstand daraus eine wahre deutsche Charakterstudie. Und die Ergebnisse machten keinen Spaß. Schon Heitmeyers erste Untersuchung zeigte die Deutschen als einen Haufen xenophober Spießer: 55 Prozent
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