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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
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81 Vorträge für zahlende Auftraggeber gewesen. Außerdem hatte er 17 von 62 wichtigen Abstimmungen verpasst. Das sei, sagten die Abgeordnetenwatcher, doppelt so viel wie im Parlamentsschnitt üblich. Zwischen 2009 und 2012 hatte Steinbrück als Redner etwa 1,25 Millionen Euro an Honoraren kassiert. Diese Zahl hatte er nur widerwillig und unter Druck herausgegeben. Zunächst hatte er sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt.
    »Ich glaube, dass es Transparenz nur in Diktaturen gibt«, hatte er gesagt und, mit Blick auf die eigene eheliche Steuergemeinschaft: »Ich schütze meine Frau.«
    Das war alles nicht so glücklich, um es vorsichtig zu formulieren. Und ganz besonders unglücklich wurde es, als herauskam, dass die Stadt Bochum, die mehr oder weniger pleite ist, Steinbrück für eine Diskussionsveranstaltung 25.000 Euro gezahlt hatte. Er hatte das einfach so genommen, für zweieinhalb Stunden Anwesenheit, von Arbeit will man da gar nicht sprechen. War das angemessen?, fragte der damalige »Spiegel«-Chef Georg Mascolo den Kandidaten in einer Diskussionsrunde. Und Steinbrück sagte: »Unverhältnismäßig!« Ihm habe das »Fingerspitzengefühl« gefehlt. So feinfühlige Fingerspitzen bräuchten die meisten Menschen nicht, um zu spüren, dass bei einem Stundenlohn von rund 10.000 Euro Preis und Leistung in keinem anständigen Verhältnis mehr stehen.
    Man muss sich das vorstellen: Steinbrück unterschrieb einen Vertrag, der ihm an einem Nachmittag das halbe Jahresgehalt eines durchschnittlichen Wählers einbringen wird, und es kümmerte ihn nicht, von wem der Auftrag stammte? So hat er das selber beschrieben. Alles sei über seine »Agentur« gelaufen. In welcher Welt lebt so ein Mann? Sicher nicht in der eines SPD-Ortsvereins.
    Einen kleinen Vorgeschmack auf das, was ihrem Kandidaten im Wahlkampf blühen würde, bekam die SPD, kurz nachdem das Thema in einer Bundestagsdebatte aufgebrochen war. Steinbrück sprach über das Betreuungsgeld. Gelächter bei der Union: Der Millionenkandidat zu Besuch im Kindergarten? Da dachte man: Die arme SPD! Wie soll das erst werden, wenn der Wahlkampf richtig losgeht? Immer wenn es um die soziale Frage geht und Steinbrück das Wort ergreift, muss ihm nur einer »Bochum« entgegenrufen, und der Kandidat hat schon verloren.
    Die SPD musste sich die Frage stellen, für wen sie eigentlich Politik machen möchte. Was versprach sich die Partei davon, einen Kandidaten aufzustellen, der der eigenen Klientel fremd war? »Die Wirtschaft wählt ja trotzdem CDU«, zitierte die »Süddeutsche Zeitung« einen ungenannten SPD-Politiker.
    Steinbrück beklagte sich, es werde anhand seiner Person eine »Neidkomplex-Debatte« geführt. Aber das stimmte nicht. Es ging hier nicht um Neid. Sondern um Glaubwürdigkeit. Warum dürfen immer nur die anderen Geld verdienen?, ereiferte sich Steinbrück einmal. Dabei ist die Frage nicht so schwer zu beantworten: weil »die anderen« nicht Kanzler im Namen der Sozialdemokratischen Partei werden wollen.
    Der Kandidat verstand zwar offensichtlich nicht, was man ihm vorwarf. Aber er gab sich dennoch Mühe, die Erwartungen zu erfüllen. Beim Nominierungs-Parteitag, den die SPD im Dezember 2012 in Hannover abhielt, sagte Steinbrück den schönen Satz: »Es gibt eine Sehnsucht in unserer Gesellschaft.« Nach den Exzessen der Finanzmärkte, nach der Entwertung der persönlichen Leistung, nach dem überbordenden Egoismus gebe es eine Sehnsucht nach mehr Maß und mehr Gerechtigkeit: »Deutschland braucht wieder mehr ›wir‹ und weniger ›ich‹!«, sagte Steinbrück. Er traf in Hannover den richtigen Ton. Noch wichtiger aber war, dass ihm ein echtes Kunststück gelang: Er zeichnete das Bild einer modernen Sozialdemokratie. Nach Hannover wusste man wieder besser, warum man die SPD wählen sollte. Gerechtigkeit. Das ist der Grund. Weil Deutschland kein gerechtes Land ist und weil der Kanzlerin und ihren Ministern das gleichgültig ist. Steinbrücks Rede war eine Rede über den Verlust an Gerechtigkeit und über den Entschluss der Rückeroberung. Für die SPD bedeutete das, ein Stück der eigenen, verlorengegangenen Identität zurückzuerobern.
    Steinbrück sagte: »Die Fliehkräfte in dieser Gesellschaft nehmen zu: durch eine wachsende Kluft in der Vermögens- und Einkommensverteilung, durch unterschiedliche Startchancen von Kindern aus materiell besser gestellten Etagen unserer Gesellschaft und Kindern aus bildungsferneren Schichten, durch die Spaltung des

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