SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Slim Amamou heißt. Der saß unter Ben Ali noch im Gefängnis und war dann nach der Revolution eine Zeitlang Staatssekretär. Joachim Gauck hat ihm sogar mal einen Menschenrechtspreis verliehen. Und der hat neulich auf einer internationalen Konferenz der Piratenparteien in Prag angekündigt, dass das parlamentarische System in Tunesien durch eine Netzdemokratie ersetzt werden soll. Jeder könne dann immer über alles abstimmen. Das halte ich für sehr riskant. Die direkte Demokratie wäre – beinahe 250 Jahre nach Rousseau – nun auch in großen politischen Ordnungen wie Staaten technisch möglich geworden. Aber ist das auch wünschbar?
A : Als Stefan-Raab-Demokratie, in der platte Ja-nein- Fragen von einem unvorbereiteten Publikum nach Lust und Laune entschieden werden, halte ich es auch nicht für wünschbar. Aber noch mal zur Gewalt: Sie sagen, begrenzte Regelverletzungen und zivilen Ungehorsam finden Sie bedenkenswert. Aber wo sehen Sie die Grenze?
K : Die Grenze ist abstrakt nur schwer zu definieren. Eine Regelverletzung sollte ihre Grenze dort finden, wo die Legitimität der parlamentarischen Institutionen grundsätzlich in Frage gestellt wird. Das heißt, wer sich an die Bannmeile heranwagt und sie vielleicht verletzt, der darf nicht im Sinne haben, das Parlament abschaffen zu wollen. Die Legitimität des Parlaments muss ebenso respektiert werden wie seine Legalität. Trotzdem kann es aber eine Dramatisierung geben, eine Herausforderung, mit der den Parlamentariern gezeigt wird: Wir haben als Protestierende eine Legitimitätsressource, über die ihr nicht verfügt.
A: Welche wäre das?
K : Letztlich entstammt sie der des Volkes; dennoch aber darf sie nicht im Sinne einer Autoritätsbeanspruchung des wahren, des eigentlichen Souveräns missverstanden werden. Die Protestierenden müssen für sich in Anspruch nehmen können, für eine übergroße Mehrheit der Bevölkerung zu sprechen, und im konkreten Fall darauf pochen, dass der Finanzmarkt diszipliniert wird und nicht dauerhaft an jeglicher parlamentarischen Kontrolle vorbeiagieren darf.
A : Sie sind also der Meinung, dass man nicht jedes auf demokratische Art und Weise errungene Ergebnis akzeptieren muss. Die Demokratie ergibt nicht immer zu respektierende Ergebnisse?
K : Ja, das ist ein naheliegender Gedanke, auch wenn er mir nicht unbedingt Freude bereitet.
A : Aber wenn wir alle denkbaren Legitimationsquellen außerhalb unseres Systems außer Acht lassen – also den lieben Gott oder den Dalai Lama oder die Vereinten Nationen oder so –, dann müssen wir doch ohnehin jedes staatliche Handeln stets zirkulär rechtfertigen. Der Souverän muss sich immer selbst am Zopf festhalten.
K : Ja. Aber er delegiert seine Macht ans Parlament. Und dieses delegiert seine Macht wiederum an die Regierung. Und dabei ist die Gewaltenteilung impliziert. Sie können diese mit verschiedenen Kontrollmechanismen versehene Delegation nicht rückgängig machen.
A : Aber Ihre Occupy-Demonstranten holen sich doch ihre Souveränität zurück, wenn sie auf den Bundestag marschieren. Die sagen doch: Wir haben unsere Macht an euch delegiert, aber jetzt holen wir sie uns zurück.
K : Nein, das ist falsch. Diese Protestler können keine Souveränität einfordern. Sie glauben vielleicht zwar, für das Volk sprechen zu können, sie können aber nur die Legitimationsdefizite des Souveräns einklagen. Das ist ein großer Unterschied. Wir reden über die Differenz von politischen Subjekten. Der legitime politische Akteur ist das Parlament. Und das kann nicht ersetzt werden durch demonstrierende Gruppen. Wie sollten die das rechtfertigen? Ich wäre hier sehr, sehr vorsichtig.
A : Haben Sie Angst vor der Anomie?
K : Die Anomie ist nicht einmal die wahrscheinlichste Konsequenz der Delegitimierung des Parlamentarismus. Ich denke eher an neue Ordnungen, die wir nicht wollen können: an undemokratische Ordnungen. Es gibt in Europa, nicht zuletzt im vergangenen Jahrhundert, einige historische Erfahrungen, die das auf eine geradezu mörderische Weise unter Beweis gestellt haben.
A : Haben Sie selbst einmal an illegalen Aktionen teilgenommen?
K : Ja, ich war nicht nur bei einer Hausbesetzung mit dabei, sondern habe auch die Ziele der damaligen Bewegung mitgetragen. Die Probleme, die es bereits vor vierzig Jahren im Frankfurter Westend gegeben hat, gibt es inzwischen in zahlreichen Großstädten und in beinahe jeder europäischen Metropole. Die Tatsache, dass es auf der einen Seite
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