Saeculum
die kein Rollenspiel auslassen und gern die Regeln der verschiedenen Veranstalter durcheinanderbringen.« Er räusperte sich. »Wir wollen uns in die Zeit des 14. Jahrhunderts zurückversetzen. Soweit das eben möglich ist. Das heißt, wir verzichten auf alles, was danach entdeckt oder erfunden wurde. Das ist die einzige Regel, die ihr während der Convention befolgen müsst, ansonsten könnt ihr den Spielverlauf praktisch selbst gestalten. Ab und zu werdet ihr Aufgaben gestellt bekommen; wenn ihr sie erfüllt, gibt es eine Belohnung. Meistens eine für den Magen.«
Gelächter.
»Das wollen wir auch hoffen!«, rief Steinchen.
»Während der fünf Tage gilt durchgängig Time-in. Ihr spielt so konsequent wie möglich den Charakter, den ihr euch ausgedacht habt. Fühlt euch in ihn hinein, entwickelt ihn. Das bedeutet natürlich auch, dass ihr die Rangordnung beachtet. Wer einen Bauern spielt, muss von einem Ritter Befehle entgegennehmen. Als Ritter sollte man darauf vorbereitet sein, Verantwortung zu tragen.« Er nickte Ralf zu, dem der Schweiß bereits bächeweise unter seiner Kettenhaube hervorlief. »Wir haben kein ausführliches Regelwerk, das man erst studieren muss, um mitmachen zu können«, fuhr Paul fort. »Es gilt: Ihr könnt, was ihr darstellen könnt. Das Spiel ist immer nur so gut wie seine Spieler. Optimal ist es, wenn ihr vergesst, dass ihr nur spielt. Deshalb gibt es bei Saeculum-Conventions auch all die schnuckeligen kleinen Handzeichen nicht, also vergesst sie am besten.« Er kreuzte die Arme vor der Brust. »Das ist bei manchen Gruppen das Signal dafür, dass die Person eigentlich gar nicht da ist, sondern nur mal schnell durchs Spielgeschehen läuft. Gilt bei uns nicht. Keine Out-time-Gesten. Auch das hier«, Paul hielt sich die gespreizten Finger vors Gesicht, »wird euch nicht unsichtbar machen. Was Magie angeht«, er vollführte ein paar elegant-verschnörkelte Bewegungen mit den Händen, »wenn ihr zaubern könnt, tut es. Seid aber nicht beleidigt, wenn euer Gegner nicht zu Stein erstarrt, nur weil ihr euren sonst so bewährten Felszauber angewendet habt. Magie folgt bei uns nur einer einzigen Regel: Sie funktioniert oder sie tut es nicht. Nicht wahr, Doro?«
»Ja«, flüsterte sie, ohne Paul aus den Augen zu lassen.
»Ihr könnt gern nach dem Medicus rufen, wenn ihr euch wehgetan habt«, fuhr er fort. »Wir haben diesmal einen beinahe richtigen dabei.« Er deutete eine Verbeugung in Bastians Richtung an. »Das heißt aber nicht, dass das Spiel unterbrochen wird. Also vergesst nicht, wir sind ein ganzes Stück von Notaufnahmen, Apotheken und Antibiotikaspritzen entfernt. Kurz - passt auf euch auf. Achtet auf eure Schritte, geht möglichst nicht allein los, schon gar nicht in der Nacht. Im 14. Jahrhundert konnte ein Knochenbruch ein Todesurteil sein und auch hier hätte er sicher unangenehmere Folgen als normalerweise.«
Aus den Augenwinkeln sah Bastian, wie Lisbeth nach ihrem Medaillon griff und es fest mit ihrer Hand umschloss.
»Eines der wichtigsten Dinge ist der Umgang mit offenem Feuer«, fuhr Paul fort. »Vorausgesetzt, ihr bekommt eins zustande, ohne Streichhölzer.« Er grinste, wurde aber sofort wieder ernst. »Feuer darf nur auf Lichtungen entzündet werden, niemals im Wald. Keine Fackeln, keine brennenden Pfeile, nichts in dieser Art! Ihr dürft nie ein Feuer sich selbst überlassen, es bleiben immer mindestens zwei Leute dabei, egal welche Wendungen das Spiel gerade nimmt. In der Nacht muss das Lagerfeuer gelöscht werden. Wachen können einschlafen, das habe ich nicht nur ein Mal erlebt. Bitte haltet euch daran, wir wollen in dieser Hinsicht nichts riskieren!«
Ernsthaftes Nicken von allen Seiten.
»Gut. Vergesst nicht, wir sind heimlich hier, wir müssen uns also besonders unauffällig verhalten. Wenn etwas passiert, sind wir dran.«
Bastian holte hörbar Luft. Er hatte nichts von all diesen Dingen bedacht. In seiner Vorstellung war die Convention ein spaßiges Zeltlager in Mittelalterkostümen gewesen, inklusive Würstchengrillen, Holzschwert-Schwingen und romantischen Spaziergängen an Sandras Seite. Das mögliche Eintreten von Waldbränden oder ernsthaften Verletzungen war dabei nicht vorgekommen. Mit einem Mal sah er Pauls Bitte an Sandra, ein Auge auf ihn zu haben, in einem ganz anderen Licht. Ich habe keine Ahnung, was auf uns zukommt. Ich habe mir keinerlei Gedanken darüber gemacht. Sehr vorausschauend, ich werde mal ein toller Arzt.
Dafür waren ihm die Gefahren
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