Saeculum
Unwillig schlug er nach den Quälgeistern direkt vor seiner Nase, die sich davon aber kein Stück beeindrucken ließen. Offensichtlich begeistert von den ungewohnten, schwitzenden Waldbesuchern, hatten sich wahre Insektenhorden eingefunden, die sie nicht nur umschwirrten, sondern auch immer wieder zur Landung ansetzten, eine sogar direkt auf Bastians Auge. »Wie seid ihr die Viecher im letzten Jahr losgeworden?«
Allgemeines Schulterzucken.
»Gar nicht. So ist es nun einmal, mein Freund«, sagte Steinchen. »Meine Empfehlung lautet: Gewöhnt Euch an sie. Gegen die Fliegen kann man nicht gewinnen.«
»Hört her!«, rief Paul, der sich wieder auf seinen Felsen gestellt hatte. »Wir sind so weit. Verabschiedet euch vom 21. Jahrhundert. Ab sofort gilt Time-in. Folgt den weißen Markierungen an den Bäumen. Wenn ihr nicht in die Irre lauft, so führen die Zeichen euch zu eurem Lager. Time-out gibt es erst in fünf Tagen, gegen Mittag, wenn wir uns hier wiedertreffen.« Er verbeugte sich mit einem strahlenden Lächeln vor den versammelten Rollenspielern. »Gehabt Euch wohl, Gefährten. Erweist Euch Eurer Aufgaben als würdig. Der Schutz des Himmels und aller guten Mächte möge mit Euch sein.«
W o bist du gewesen?«
»Einkaufen, das weißt du doch, ich wollte Stiefel -«
»Du warst bei einem anderen.«
»Nein, ich wollte Stiefel kaufen.«
»Na, dann zeig doch mal her. Wo sind sie denn?«
»Ich habe keine gefunden. Die waren alle Mist.
Hässlich oder zu teuer, morgen geh ich noch mal los.«
»Das träumst du. Du haust nicht noch mal ab. Los.
Da runter.«
»Was? Nein! Lass den Quatsch, du bist doch irre!«
»Wie nennst du mich?«
»Entschuldige, so hab ich es nicht gemeint.«
»Geh da runter und denk darüber nach, was du getan hast.«
»Hör auf, bitte, ich -«
»Mund halten. Wenn du kapierst, wie sehr du mich enttäuscht hast, lasse ich dich vielleicht wieder raus.«
L eichter Wind kam auf und trieb einen zarten Torfgeruch vor sich her. Der Riemen der Harfentasche grub sich mit jedem Schritt tiefer in Iris' Schulter, trotzdem war ihr so leicht zumute wie seit Monaten nicht mehr. Frei. Sie summte vor sich hin und betrachtete die fransigen Stücke blauen Himmels, die zwischen den Baumwipfeln zu sehen waren.
Zwei der weißen Markierungen hatte die Gruppe bereits gefunden, doch nun schon seit gut einer halben Stunde keine mehr. Während die Mienen der anderen zusehends verdrießlicher wurden, interessierte es Iris kein Stück, ob sie sich noch auf dem richtigen Weg befanden. Sie genoss jede Sekunde, obwohl das Vorwärtskommen mühsam war. Entweder die Bäume standen so eng nebeneinander wie eine Hecke oder es galt, über Felsen zu klettern und durch kniehohe Pflanzenteppiche zu waten, so dicht, dass man keinen Boden erkennen konnte. Jetzt gab es zu allem Überfluss auch noch eine Unterbrechung, denn Ralf brüllte »Haaaalt!« und hob sein Schwert in die Luft.
»Schweigt und hört auf das, was ich Euch zu sagen habe!«, rief er. »Wir haben schon einen weiten Weg hinter uns, viele sind erschöpft.«
Vor allem du, dachte Iris spöttisch. Ralfs hochrotes Gesicht und sein verzweifeltes Luftholen nach jedem Satz waren aussagekräftiger als seine Worte.
»Als Ranghöchster hier habe ich die Aufgabe, mich um Euer Wohl zu sorgen und Euch anzuführen. Für die, die mich noch nicht kennen: Mein Name ist Alaric von Thanning und mein Blut geht bis auf die ersten Frankenkönige zurück. Ich habe in zahlreichen Schlachten gekämpft und gesiegt!«
Er spielte seine Rolle nicht schlecht, schade nur, dass sein pummeliger Körper nicht mal in Harnisch und Kettenhemd kriegerisch wirkte. Trotzdem stimmte Iris in die Hochrufe ein. Sie sah, wie der Musterschüler sich verlegen umblickte und dann ebenfalls zaghaft jubelte.
»Wir haben bislang zwei der Wegzeichen gefunden«, fuhr Ralf fort. »Doch wir kommen zu langsam voran. Deshalb werde ich Späher vorausschicken, die den Weg erkunden, während wir anderen hier warten. Sobald sie wissen, in welche Richtung es weitergeht, werden wir ihnen folgen.« Er richtete seinen Zeigefinger erst auf Georg, dann auf Arno.
»Ihr! Legt Eure Habe ab und zieht los. Erstattet uns Bericht, sobald Ihr fündig geworden seid!«
Die beiden erfüllte der Auftrag sichtlich nicht mit großer Begeisterung. Georg wechselte einen Blick mit Lisbeth, die kaum merkbar nickte und über ihr Medaillon strich.
Iris lehnte vorsichtig die Harfentasche an einen Baum, bevor sie sich mit einem Seufzer der
Weitere Kostenlose Bücher