Saeculum
Bewegung deutete sie auf die vier Erdhügel, nur wenige Schritte entfernt.
Bastian hatte nach der Schufterei keinen Nerv für ihre Spinnereien. »Keine echten Gräber«, sagte er knapp. »Keine Toten. Okay?«
Doros dicke schwarze Augenbrauen hoben sich Unheil verkündend. »Ich möchte Euch nur schützen«, sagte sie. »Auch wenn Ihr mich für verrückt haltet. Aber ich kann sie spüren, die ruhelosen Wesen um uns. Verärgert sie nicht.«
»Das hab ich nicht vor.«
Sie bedachte ihn mit einem tiefen Blick und stellte sich neben ihn. »Gebt mir Eure Hand.«
»Nein danke.«
»Ihr habt Angst, nicht wahr?«
»Falsch. Ich habe Hunger«, sagte Bastian wahrheitsgemäß. »Bringt es auch Unglück, nahe der Gräber zu essen?«
»Ich würde alles vermeiden, was den Neid der Toten wecken könnte«.
Bastian suchte in Doros Miene nach einem Funken Ironie, doch er wurde nicht fündig. Seufzend raffte er seine Sachen zusammen und trug sie weiter in die Mitte der Wiese. An einer Stelle wuchsen Klee und ein paar Disteln - Letztere zupfte er aus, dann machte er es sich mit seinen Vorräten gemütlich. Der erste Moment dieser Con, in dem er sich am richtigen Platz fühlte. So muss es früher gewesen sein. Nichts Überflüssiges. Nur ich, der Wind in den Bäumen, die Erde unter mir. Ein Stück Brot, ein Stück Räucherfleisch.
Und eine zarte Melodie, die sich in das allgegenwärtige Fliegensummen mischte. Bastian drehte sich um - da war Iris, die auf einem der drei Walbuckelsteine saß und mit den Fingern über die Saiten ihrer Harfe strich. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Gesicht gelöst, all ihre Krallen eingezogen. Sein erster Impuls war, sich samt Brot und Speck zu ihr zu setzen, um besser zuhören zu können, doch er entschied sich dagegen. Sie wirkte vollauf zufrieden, so allein mit sich und ihrer Musik. Die zerrupfte Elfe auf ihrem Felsen.
Die altertümlichen Klänge der Melodie machten die Illusion perfekt, sie erweckten Tomen in Bastians Innerem zum Leben. Tomen, der nichts weiter wollte, als hier zu sitzen und zu essen. Ein bisschen Schatten vielleicht und ein paar Freunde, mit denen er an einem abendlichen Feuer Erzählungen austauschen und den Lagerplatz teilen konnte. Tomen, der Zeit hatte. Köln war mit einem Mal nicht nur Hunderte Kilometer, sondern auch Hunderte Jahre entfernt.
Ein unkontrolliertes Lachen drängte seine Kehle hinauf, kollidierte dort mit einem Bissen Brot und brachte ihn zum Husten. Die Harfenklänge brachen ab.
»Alles in Ordnung?«
Er winkte Iris zu, winkte und lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Besser als in Ordnung«, keuchte er. »Spielt weiter, bitte. Ihr und Eure Musik seid nicht von dieser Welt, wisst Ihr das?« Es war eine alberne Bemerkung und er erwartete, dass sie eine spöttische Grimasse ziehen würde, doch sie lächelte nur. Lächelte ihn zum ersten Mal wirklich an.
»Ich wünschte, Ihr hättet recht.«
D as Gefühl, nichts erledigen zu müssen, keine Verpflichtungen zu haben, war so wundervoll, dass Bastian darauf verzichtete, sich den anderen bei der Spielaufgabe noch anzuschließen. Was sie suchten, hatte er auch beinahe schon wieder vergessen. Irgendeinen Feind. Den würden sie auch ohne ihn finden. Satt und glücklich blieb er im Gras liegen, beobachtete abwechselnd die Harfe spielende Iris und die schwarz gekleidete Doro, die am Rand des Lagers entlangschlich und Beschwörungsformeln murmelte. Sollte sie doch. Hier war Freiheit. Morgen würde er auch mal an einer Spielaufgabe, irgendeiner Quest, teilnehmen, wenn er Lust dazu hatte. Falls nicht, würde er einfach liegen bleiben und in den Himmel starren, bis ihm die Augen tränten. Oder er würde eine weitere Latrine buddeln - es war egal, er brauchte keine Pläne. Alles, was er brauchte, waren diese Luft und diese Bäume, das Zetern der Vögel in den Ästen und der Wind, der die Mücken vertrieb.
Schon bald kam der erste seiner Gefährten aus dem Wald zurück. Steinchen verkündete lauthals, dass er zu seiner Schande keinen der brandschatzenden Verbrecher gefunden hatte, dass er dafür jetzt aber seiner Berufung als Wirt nachkommen und etwas kochen würde. Er häufte Reisig in der vorbereiteten Feuerstelle auf und holte aus seiner Gürteltasche einen Stein, einen kleinen Stofffetzen und ein gebogenes Eisenteil hervor, wickelte den Stoff ein Stück weit um den Stein und schlug mit dem Eisen dagegen. Wie er es genau machte, konnte Bastian dank fehlender Brille nicht erkennen, jedenfalls blies Steinchen schon
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