Saemtliche Dramen
der gedanklichen Kühnheit der Amerikaner. Wenn ich dasselbe täte, würde man mich einen Sozialisten schimpfen und meine Haut beschlagnahmen. Also muss ich mich mit den Studenten begnügen. Ich hinterlasse ihnen mein Skelett, aber ich verfüge, dass auf den Schädel ein Zettel mit der Inschrift geklebt wird: «Ein bekehrter Freidenker.»]
STAWROGIN
Also wissen Sie schon, dass Sie in Lebensgefahr schweben.
LEBJADKIN (auffahrend)
Nein, wieso, was soll das heißen? Ist das ein Scherz?
STAWROGIN
Haben Sie nicht dem Gouverneur einen Brief geschrieben und Werchowenskis Gruppe denunziert, zu der Sie selber gehören?
LEBJADKIN
Ich gehöre nicht dazu. Ich habe Flugblätter verteilt, um mich irgendwie nützlich zu machen. In dem Sinn habe ich auch dem Gouverneur geschrieben. Aber dass Werchowenski gleich denkt … Oh! Ich fahre nach Sankt Petersburg. Genau deswegen warte ich so ungeduldig auf Sie, mein Wohltäter. Ich brauche Geld für die Reise.
STAWROGIN
Von mir bekommen Sie nichts. Ich habe Ihnen schon zu viel gegeben.
LEBJADKIN
Das stimmt, aber ich habe die Schande auf mich genommen.
STAWROGIN
Was ist Schändliches daran, dass Ihre Schwester vor dem Gesetz meine Frau ist?
LEBJADKIN
Aber die Ehe ist geheim! Ein peinlich gehütetes Geheimnis! Ich kriege Geld von Ihnen, das ist nur normal. Aber ich werde gefragt: «Warum nehmen Sie dieses Geld an?», ich kann nicht antworten, weil ich an mein Wort gebunden bin, und so schädige ich meine Schwester und unsere Familienehre.
STAWROGIN
Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich dieses Unrecht an Ihrer hochnoblen Familie gutmachen werde. Ich plane, morgen unsere Ehe bekanntzugeben. Damit ist die Frage der Familienehre erledigt. Und zugleich natürlich die der Unterstützungen, die ich Ihnen dann nicht mehr schulde.
LEBJADKIN (entsetzt)
Unmöglich! Das können Sie nicht tun. Meine Schwester ist halb verrückt.
STAWROGIN
Ich treffe Vorkehrungen.
LEBJADKIN
Was wird Ihre Mutter sagen? Sie müssen Ihre Frau in Ihr Haus aufnehmen.
STAWROGIN
Das geht Sie nichts an.
LEBJADKIN
Und was soll aus mir werden? Sie werfen mich weg wie einen ausgedienten Stiefel.
STAWROGIN
Ja. Wie einen ausgedienten Stiefel. Genau. Rufen Sie jetzt Marja Timofejewna.
( LEBJADKIN holt MARJA ; sie bleibt in der Mitte des Zimmers stehen.)
STAWROGIN (zu LEBJADKIN )
Gehen Sie hinaus. Nein, nicht nach nebenan, dann lauschen Sie. Aus dem Haus!
LEBJADKIN
Aber es regnet.
STAWROGIN
Nehmen Sie meinen Schirm.
LEBJADKIN (entgeistert)
Ihren Schirm? Habe ich so viel Ehre verdient?
STAWROGIN
Jeder hat das.
LEBJADKIN
Ja, ja, freilich, das gehört zu den Menschenrechten! (Er geht hinaus.)
MARJA
Darf ich Ihnen die Hand küssen?
STAWROGIN
Nein, noch nicht.
MARJA
Gut. Setzen Sie sich ins Licht, dass ich Sie besser anschauen kann.
(Um zum Sessel zu gelangen, geht STAWROGIN auf sie zu. Sie weicht mit entsetztem Gesicht zurück, den Arm wie zum Schutz erhoben. STAWROGIN hält inne.)
STAWROGIN
Ich habe Sie erschreckt. Entschuldigung.
MARJA
Das macht nichts. Ich habe mich geirrt.
STAWROGIN (setzt sich ins Licht. MARJA schreit auf. STAWROGIN , etwas ungeduldig)
Was ist?
MARJA
Nichts. Auf einmal habe ich Sie nicht wiedererkannt. Sie sahen aus wie ein anderer. Was haben Sie da in der Hand?
STAWROGIN
In welcher Hand?
MARJA
Der rechten. Ein Messer!
STAWROGIN
Sehen Sie doch, meine Hand ist leer.
MARJA
Ja. Ja. Heute Nacht habe ich im Traum einen Mann gesehen, der aussah wie mein Prinz, aber er war es nicht. Er kam mit einem Messer auf mich zu. Ah! (Schreit) Sind Sie mein Prinz oder der Mörder aus dem Traum?
STAWROGIN
Sie träumen nicht. Beruhigen Sie sich.
MARJA
Wenn Sie mein Prinz sind, warum küssen Sie mich dann nicht? Stimmt, er hat mich nie geküsst. Aber er war zärtlich. An Ihnen spüre ich nichts Zärtliches. Stattdessen kämpft etwas in Ihnen, das mich bedroht. Er nannte mich seine Taube. Er hat mir einen Ring geschenkt. «Schau ihn abends an, dann bin ich im Schlaf bei dir», hat er gesagt.
STAWROGIN
Wo ist dieser Ring?
MARJA
Mein Bruder hat ihn versoffen. Und ich bin nachts allein. Jede Nacht … (Sie weint.)
STAWROGIN
Weinen Sie nicht, Marja Timofejewna. Von nun an werden wir zusammenleben.
MARJA (mustert ihn)
Ja, Ihre Stimme ist jetzt sanft. Ich erinnere mich. Ich weiß, warum Sie sagen, wir würden jetzt zusammenleben. Neulich in der Kutsche haben Sie gesagt, dass Sie unsere Ehe offiziell machen werden. Aber ich habe davor auch
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