Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Saemtliche Dramen

Saemtliche Dramen

Titel: Saemtliche Dramen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
Vom Netzwerk:
gut verstehen, und mehr noch, Sie werden feststellen, wie viel Sie uns zu sagen haben und wie angenehm ein Zuhörer sein kann, wenn man von sich erzählt.
    JAN
    Leider werde ich nicht sehr gut von mir erzählen können. Aber das ist ja eigentlich auch nicht nötig. Wenn mein Aufenthalt kurz wird, brauchen Sie mich nicht kennenzulernen. Und bleibe ich länger, dann werden Sie mit der Zeit feststellen, wer ich bin, auch ohne dass ich viel rede.
    MARTHA
    Ich hoffe bloß, Sie nehmen mir das, was ich eben gesagt habe, nicht insgeheim übel, das wäre ganz falsch. Ich habe es immer besser gefunden, die Dinge beim Namen zu nennen, und ich konnte Sie nicht in einem Ton weiterreden lassen, der unsere Beziehung auf jeden Fall beeinträchtigt hätte. Was ich sage, ist vernünftig. Da wir bis heute keine Gemeinsamkeiten hatten, gibt es wirklich nicht den geringsten Grund, auf einmal vertraut miteinander zu tun.
    JAN
    Ich habe Sie ja um Entschuldigung gebeten. Ich weiß auch, dass Vertrautheit nicht so schnell entsteht. Man braucht Zeit dafür. Wenn in Ihren Augen zwischen uns jetzt alles klar ist, würde ich mich freuen.
    (Die MUTTER tritt ein.)
    Szene  6
    DIE MUTTER
    Guten Tag, mein Herr. Ihr Zimmer ist bereit.
    JAN
    Vielen Dank.
    DIE MUTTER (setzt sich; zu MARTHA )
    Hast du den Meldeschein ausgefüllt?
    MARTHA
    Ja.
    DIE MUTTER
    Kann ich mal sehen? Sie werden entschuldigen, mein Herr, aber die Polizei ist streng damit. Sehen Sie, meine Tochter hat vergessen zu notieren, ob Sie aus Gesundheitsgründen, geschäftlich oder als Tourist hier sind.
    JAN
    Als Tourist, nehme ich an.
    DIE MUTTER
    Wahrscheinlich wegen des Kreuzgangs? Der soll ja sehr schön sein.
    JAN
    Ja, ich habe von ihm gehört. Ich wollte aber auch die Gegend wiedersehen, ich kenne sie von früher und habe sie in bester Erinnerung.
    MARTHA
    Haben Sie hier gelebt?
    JAN
    Nein, aber vor langer Zeit bin ich einmal hier durchgekommen. Das habe ich nie vergessen.
    DIE MUTTER
    Dabei ist unser Dorf wirklich klein.
    JAN
    Das stimmt. Aber es gefällt mir sehr, und seit ich hier bin, fühle ich mich fast wie zu Hause.
    DIE MUTTER
    Werden Sie lange bleiben?
    JAN
    Ich weiß nicht. Das finden Sie sicher seltsam. Aber ich weiß es wirklich nicht. Um an einem Ort zu bleiben, braucht man Gründe – Freundschaft oder Liebe zu jemandem. Sonst kann man genauso gut woanders sein. Und da man nie weiß, wie man aufgenommen wird, weiß ich natürlich noch nicht, was ich tun werde.
    MARTHA
    Sehr klar ist das nicht!
    JAN
    Ja, aber ich kann mich nicht klarer ausdrücken.
    DIE MUTTER
    Ach, Sie werden es bald überhaben.
    JAN
    Nein, ich habe ein treues Herz, und ich werde schnell vertraut, wenn man mich lässt.
    MARTHA (unduldsam)
    Das Herz hat hier nichts verloren.
    JAN (scheint nichts gehört zu haben; zur MUTTER )
    Sie wirken etwas verbittert. Leben Sie denn schon so lange in diesem Hotel?
    DIE MUTTER
    Seit Jahren. So viele Jahre, ich weiß nicht mehr, wann es angefangen hat, und ich habe vergessen, wer ich damals war. Das hier ist meine Tochter.
    MARTHA
    Mutter, Sie haben keinen Grund, diese Dinge zu erzählen.
    DIE MUTTER
    Du hast recht, Martha.
    JAN (sehr schnell)
    Lassen Sie nur. Ich verstehe Ihre Gefühle sehr gut. So ist einem zumute am Ende eines Lebens voller Arbeit. Vielleicht wäre aber alles anders gekommen, wenn Sie die Hilfe gehabt hätten, die einer Frau zusteht, wenn ein männlicher Arm Sie unterstützt hätte.
    DIE MUTTER
    Oh! Früher, ja, da hat mir mein Mann geholfen, aber die Arbeit wuchs uns über den Kopf. Wir beide konnten sie kaum bewältigen. Wir hatten nicht einmal mehr Zeit, aneinander zu denken, und ich glaube, ich hatte ihn schon vergessen, bevor er tot war.
    JAN
    Ja, das verstehe ich. Aber … (nach kurzem Zögern) wenn ein Sohn Ihnen unter die Arme gegriffen hätte, den hätten Sie vielleicht nicht vergessen?
    MARTHA
    Mutter, die Arbeit wartet.
    DIE MUTTER
    Ein Sohn! Oh, ich bin viel zu alt! Alte Frauen verlernen sogar, ihre Söhne zu lieben. Das Herz nutzt sich ab, mein Herr.
    JAN
    Das stimmt. Aber ich weiß, dass es nie vergisst.
    MARTHA (baut sich entschieden zwischen ihnen auf)
    Ein Sohn, der hier hereinkäme, würde genau das vorfinden, worauf jeder Gast Anspruch hat: wohlwollende Gleichgültigkeit. Alle Männer, die von uns beherbergt wurden, haben sich damit begnügt. Sie haben ihr Zimmer bezahlt und einen Schlüssel erhalten. Sie haben nicht über ihr Herz geredet. (Kurze Pause.) Das hat uns die Arbeit leichter gemacht.
    DIE MUTTER
    Lass das.
    JAN

Weitere Kostenlose Bücher