Sämtliche Werke
Schlepprock so weit hintenaus im Winde segeln ließ als möglich, um ihre Erscheinung ansehnlicher und würdiger zu machen. – Und nun erscheint der Herr – und allen Leuten versagt das Wort im Munde – kommt angezogen mit seiner trippelnden, kleinen, hohläugigen Französin, der die Auszehrung aus allen Gliedern spricht, wenn sie gleich ihre Totenfarbe mit Weiß und Rot überpinselt hat. O Bruder, ich werde rasend, ich laufe davon, wenn mich nun die Leute zu packen kriegen und fragen und quästionieren und nicht begreifen können –
Clavigo (ihn bei der Hand fassend) .
Mein Freund, mein Bruder, ich bin in einer schrecklichen Lage. Ich sage dir, ich gestehe dir, ich erschrak, als ich Marien wieder sah! Wie entstellt sie ist, – wie bleich, abgezehrt. O, das ist meine Schuld, meiner Verräterei!
Carlos .
Possen! Grillen! Sie hatte die Schwindsucht, da dein Roman noch sehr im Gange war. Ich sagte dir’s tausendmal, und – aber ihr Liebhaber habt keine Augen, keine Nasen. Clavigo, es ist schändlich! So alles, alles zu vergessen, eine kranke Frau, die dir die Pest unter deine Nachkommenschaft bringen wird, dass alle deine Kinder und Enkel so in gewissen Jahren höflich ausgehen wie Bettlerslämpchen. – Ein Mann, der Stammvater einer Familie sein könnte, die vielleicht künftig – Ich werde noch närrisch, der Kopf vergeht mir.
Clavigo .
Carlos, was soll ich dir sagen! Als ich sie wieder sah, im ersten Taumel flog ihr mein Herz entgegen – und ach! – da der vorüber war – Mitleiden – innige tiefe Erbarmung flößte sie mir ein: Aber Liebe – sieh! Es war, als wenn mir in der warmen Fülle der Freuden die kalte Hand des Todes über’n Nacken führe. Ich strebte, munter zu sein, wieder vor denen Menschen, die mich umgaben, den Glücklichen zu spielen – es war alles vorbei, alles so steif, so ängstlich. Wären sie weniger außer sich gewesen, sie müssten’s gemerkt haben.
Carlos .
Hölle! Tod und Teufel! Und du willst sie heiraten? –
Clavigo (steht ganz in sich selbst versunken, ohne zu antworten) .
Carlos .
Du bist hin! Verloren auf ewig. Leb’ wohl, Bruder, und lass mich alles vergessen, lass mich mein einsames Leben noch so ausknirschen über das Schicksal deiner Verblendung. Ha! Das alles! Sich in den Augen der Welt verächtlich zu machen und nicht einmal dadurch eine Leidenschaft, eine Begierde gefriedigen! Dir mutwillig eine Krankheit zuziehen, die, indem sie deine innern Kräfte untergräbt, dich zugleich dem Anblick der Menschen abscheulich macht.
Clavigo .
Carlos! Carlos!
Carlos .
Wärst du nie gestiegen, um nie zu fallen! Mit welchen Augen werden sie das ansehen! „Da ist der Bruder“, werden sie sagen! „Das muss ein braver Kerl sein,d er hat ihn ins Bockshorn gejagt, er hat sich nicht getraut, ihm die Spitze zu bieten.“ – „Ha!“, werden unsre schwadronierenden Hofjunker sagen, „man sieht immer, dass er kein Kavalier ist.“ – „Pah!“, ruft einer und rückt den Hut in die Augen, „der Franzos hätte mir kommen sollen!“ und patscht sich auf den Bauch, ein Kerl, der vielleicht nicht wert wäre, dein Reitknecht zu sein.
Clavigo (fällt in dem Ausbruch der heftigsten Beängstigung, mit einem Storm von Tränen, dem Carlos um den Hals) .
Rette mich! Freund! Mein Bester, rette mich! Rette mich von dem gedoppelten Meineid, von der unübersehlichen Schande, von mir selbst – ich vergehe!
Carlos .
Armer! Elender! Ich hoffte, diese jugendlichen Rasereien, diese stürmenden Tränen, diese versinkende Wehmut sollte vorüber sein, ich hoffte, dich als Mann nicht mehr erschüttert, nicht mehr in dem beklemmenden Jammer zu sehen, den du ehemals so oft in meinen Busen ausgeweint hast. Ermanne dich, Clavigo, ermanne dich!
Clavigo .
Lass mich weinen! (Wirft sich in einen Sessel.)
Carlos .
Weh dir, dass du eine Bahn betreten hast, die du nicht endigen wirst! Mit deinem Herzen, deinen Gesinnungen, die einen ruhigen Bürger glücklich manchen würden, musstest du den unseligen Hang nach Größe verbinden! Und was ist Größe, Clavigo? Sich in Rang und Ansehen über andre zu erheben? Glaub’ es nicht! Wenn dein Herz nicht größer ist als andrer Herzen, wenn du nicht imstande bist, dich gelassen über Verhältnisse hinauszusetzen, die einen gemeinen Menschen ängstigen würden, so bist du mit allen dienen Bändern und Sternen, bist mit der Krone selbst nur ein gemeiner Mensch. Fasse dich, beruhige dich.
Clavigo (richtet sich auf, sieht Carlos an und reicht ihm
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