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Sämtliche Werke

Titel: Sämtliche Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Heine
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diesen Anblick vergessen. Voran schritten die Brüderschaften in ihren roten, weißen oder schwarzen Gewanden, die Büßer mit übers Haupt gezogenen Kapuzen, worin zwei Löcher, woraus die Augen gespenstisch hervorlugten; in den Händen brennende Wachskerzen oder Kreuzfahnen. Dann kamen die verschiedenen Mönchsorden. Auch eine Menge Laien, Frauen und Männer, blasse, gebrochene Gestalten, die gläubig einherschwankten, mit rührend kummervollem Singsang. Ich war dergleichen oft in meiner Kindheit am Rhein begegnet, und ich kann nicht leugnen, daß jene Töne eine gewisse Wehmut, eine Art Heimweh in mir weckten. Was ich aber früher noch nie gesehen und was nachbarlich spanische Sitte zu sein schien, war die Truppe von Kindern, welche die Passion darstellten. Ein kleines Bübchen, kostümiert, wie man den Heiland abzubilden pflegt, die Dornenkrone auf dem Haupt, dessen schönes Goldhaar traurig lang herabwallte, keuchte gebückt einher unter der Last eines ungeheuer großen Holzkreuzes; auf der Stirn grell gemalte Blutstropfen und Wundenmale an den Händen und nackten Füßen. Zur Seite ging ihm ein ganz schwarz gekleidetes kleines Mädchen, welches, als schmerzenreiche Mutter, mehre Schwerter mit vergoldeten Heften an der Brust trug und fast in Tränen zerfloß – ein Bild tiefster Betrübnis. Andere kleine Knaben, die hinterdrein gingen, stellten die Apostel vor, darunter auch Judas, mit rotem Haar und einen Beutel in der Hand. Ein paar Bübchen waren auch als römische Landsknechte behelmt und bewehrt und schwangen ihre Säbel. Mehre Kinder trugen Ordenshabit und Kirchenornat: kleine Kapuziner, kleine Jesuitchen, kleine Bischöfe mit Inful und Krummstab, allerliebste Nönnchen, gewiß keines über sechs Jahre alt. Und sonderbar, es waren darunter auch einige Kinder als Amoretten gekleidet, mit seidenen Flügeln und goldenen Köchern, und in der unmittelbarsten Nähe des kleinen Heilands wackelten zwei noch viel kleinere, höchstens vierjährige Geschöpfchen in altfränkischer Schäfertracht, mit bebänderten Hütchen und Stäben, zum Küssen niedlich, wie Marzipanpüppchen: sie repräsentierten wahrscheinlich die Hirten, die an der Krippe des Christkindes gestanden. Sollte man es aber glauben, dieser Anblick erregte in der Seele des Zuschauers die ernstvoll andächtigsten Gefühle, und daß es kleine unschuldige Kinder waren, die das größte, kolossalste Martyrtum tragierten, wirkte um so rührender! Das war keine Nachäffung im historischen Großstil, keine schiefmäulige Frommtuerei, keine Berliner Glaubenslüge: das war der naivste Ausdruck des tiefsinnigsten Gedankens, und die herablassend kindliche Form verhinderte eben, daß der Inhalt vernichtend auf unser Gemüt wirkte oder sich selbst vernichtete. Dieser Inhalt ist ja von so ungeheuerlicher Schmerzensgewalt und Erhabenheit, daß er die heroisch-grandioseste und pathetisch-ausgereckteste Darstellungsart überragt und sprengt. Deshalb haben die größten Künstler sowohl in der Malerei als in der Musik die überschwenglichen Schrecknisse der Passion mit soviel Blumen als möglich verlieblicht und den blutigen Ernst durch spielende Zärtlichkeit gemildert – und so tat auch Rossini, als er sein »Stabat mater« komponierte.
    Letzteres, das »Stabat« von Rossini, war die hervorragende Merkwürdigkeit der hingeschiedenen Saison, die Besprechung desselben ist noch immer an der Tagesordnung, und eben die Rügen, die von norddeutschem Standpunkt aus gegen den großen Meister laut werden, beurkunden recht schlagend die Ursprünglichkeit und Tiefe seines Genius. Die Behandlung sei zu weltlich, zu sinnlich, zu spielend für den geistlichen Stoff, sie sei zu leicht, zu angenehm, zu unterhaltend – so stöhnen die Klagen einiger schweren, langweiligen Kritikaster, die, wenn auch nicht absichtlich, eine übertriebene Spiritualität erheucheln, doch jedenfalls von der heiligen Musik sehr beschränkte, sehr irrige Begriffe sich angequält. Wie bei den Malern, so herrscht auch bei den Musikern eine ganz falsche Ansicht über die Behandlung christlicher Stoffe. Jene glauben, das wahrhaft Christliche müsse in subtilen magern Konturen und so abgehärmt und farblos als möglich dargestellt werden; die Zeichnungen von Overbeck sind in dieser Beziehung ihr Ideal. Um dieser Verblendung durch eine Tatsache zu widersprechen, mache ich nur auf die Heiligenbilder der spanischen Schule aufmerksam; hier ist das Volle der Konturen und der Farbe vorherrschend, und es wird doch

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