Sämtliche Werke
schönsten Kleider und den Männern sehr viel Geduld. Den Reichen wünsche ich ein Herz und den Armen ein Stückchen Brot. Vor allem aber wünsche ich, daß wir in diesem neuen Jahr einander sowenig als möglich verleumden mögen.
LIV
Paris, 2. Februar 1843
Worüber ich am meisten erstaune, das ist die Anstelligkeit dieser Franzosen, das geschickte Übergehen oder vielmehr Überspringen von einer Beschäftigung in die andre, in eine ganz heterogene. Es ist dieses nicht bloß eine Eigenschaft des leichten Naturells, sondern auch ein historisches Erwerbnis: sie haben sich im Laufe der Zeit ganz losgemacht von hemmenden Vorurteilen und Pedantereien. So geschah es, daß die Emigranten, die während der Revolution zu uns herüberflüchteten, den Wechsel der Verhältnisse so leicht ertrugen und manche darunter, um das liebe Brot zu gewinnen, sich aus dem Stegreif ein Gewerbe zu schaffen wußten. Meine Mutter hat mir oft erzählt, wie ein französischer Marquis sich damals als Schuster in unsrer Stadt etablierte und die besten Damenschuhe verfertigte; er arbeitete mit Lust, pfiff die ergötzlichsten Liedchen und vergaß alle frühere Herrlichkeit. Ein deutscher Edelmann hätte unter denselben Umständen ebenfalls zum Schusterhandwerk seine Zuflucht genommen, aber er hätte sich gewiß nicht so heiter in sein ledernes Schicksal gefügt, und er würde sich jedenfalls auf männliche Stiefel gelegt haben, auf schwere Sporenstiefel, die an den alten Ritterstand erinnern. Als die Franzosen über den Rhein kamen, mußte unser Marquis seine Butike verlassen, und er floh nach einer andern Stadt, ich glaube nach Kassel, wo er der beste Schneider wurde; ja, ohne Lehrjahre emigrierte er solchermaßen von einem Gewerbe zum andern und erreichte darin gleich die Meisterschaft – was einem Deutschen unbegreiflich erscheinen dürfte, nicht bloß einem Deutschen von Adel, sondern auch dem gewöhnlichsten Bürgerkind. Nach dem Sturze des Kaisers kam der gute Mann mit ergrauten Haaren, aber unverändert jungem Herzen in die Heimat zurück und schnitt ein so hochadeliges Gesicht und trug wieder so stolz die Nase, als hätte er niemals den Pfriem oder die Nadel geführt. Es ist ein Irrtum, wenn man von den Emigranten behauptete, sie hätten nichts gelernt und nichts vergessen, im Gegenteil, sie hatten alles vergessen, was sie gelernt. Die Helden der Napoleonischen Kriegsperiode, als sie abgedankt oder auf halben Sold gesetzt wurden, warfen sich ebenfalls mit dem größten Geschick in die Gewerbtätigkeit des Friedens, und jedesmal, wenn ich in das Comptoir von Delloye trat, hatte ich meine liebe Verwunderung, wie der ehemalige Colonel jetzt als Buchhändler an seinem Pulte saß, umgeben von mehren weißen Schnurrbärten, die ebenfalls als brave Soldaten unter dem Kaiser gefochten, jetzt aber bei ihrem alten Kameraden als Buchhalter oder Rechnungsführer, kurz, als Kommis dienten.
Aus einem Franzosen kann man alles machen, und jeder dünkt sich zu allem geschickt. Aus dem kümmerlichsten Bühnendichter entsteht plötzlich, wie durch einen Theatercoup ein Minister, ein General, ein Kirchenlicht, ja ein Herrgott. Ein merkwürdiges Beispiel der Art bieten die Transformationen unsres lieben Charles Duveyrier, der einer der erleuchtetsten Dignitare der Saint-Simonistischen Kirche war und, als diese aufgehoben wurde, von der geistlichen Bühne zur weltlichen überging. Dieser Charles Duveyrier saß in der Salle Taitbout auf der Bischofsbank, zur Seite des Vaters, nämlich Enfantins; er zeichnete sich aus durch einen gotterleuchteten Prophetenton, und auch in der Stunde der Prüfung gab er als Martyrer Zeugnis für die neue Religion. Von den Lustspielen Duveyriers wollen wir heute nicht reden, sondern von seinen politischen Broschüren; denn er hat die Theaterkarriere wieder verlassen und sich auf das Feld der Politik begeben, und diese neue Umwandlung ist vielleicht nicht minder merkwürdig. Aus seiner Feder flossen die kleinen Schriften, die allwöchentlich unter dem Titel »Lettres politiques« herauskommen. Die erste ist an den König gerichtet, die zweite an Guizot, die dritte an den Herzog von Nemours, die vierte an Thiers. Sie zeugen sämtlich von vielem Geist. Es herrscht darin eine edle Gesinnung, ein lobenswerter Widerwille gegen barbarische Kriegsgelüste, eine schwärmerische Begeisterung für den Frieden. Von der Ausbeutung der Industrie erwartet Duveyrier das Goldne Zeitalter. Der Messias wird nicht auf einem Esel, sondern auf einem
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