Sämtliche Werke
ganz andern Weise schreibt. Soll der Historiker, nachdem er geforscht und gedacht, uns die Vorfahren und ihr Treiben, die Tat der Zeit zur Anschauung bringen; soll er durch die Zaubergewalt des Wortes die tote Vergangenheit aus dem Grabe beschwören, daß sie lebendig vor unsre Seele tritt – ist dieses die Aufgabe, so können wir versichern, daß Michelet sie vollständig löst. Mein großer Lehrer, der selige Hegel, sagte mir einst: »Wenn man die Träume aufgeschrieben hätte, welche die Menschen während einer bestimmten Periode geträumt haben, so würde einem aus der Lektüre dieser gesammelten Träume ein ganz richtiges Bild vom Geiste jener Periode aufsteigen.« Michelets »Französische Geschichte« ist eine solche Kollektion von Träumen, ein solches Traumbuch: das ganze träumende Mittelalter schaut daraus hervor mit seinen tiefen leidenden Augen, mit dem gespenstigen Lächeln, und wir erschrecken fast ob der grellen Wahrheit der Farbe und Gestalt. In der Tat, für die Schilderung jener somnambulen Zeit paßte eben ein somnambuler Geschichtschreiber wie Michelet.
In derselben Weise wie gegen Michelet hat gegen Quinet sowohl die klerikale Partei als auch die Regierung ein höchst unkluges Verfahren eingeschlagen. Daß erstere, die Männer der Liebe und des Friedens, sich in ihrem frommen Eifer weder klug noch sanftmütig zeigen würden, setzt mich nicht in Verwunderung. Aber eine Regierung, an deren Spitze ein Mann der Wissenschaft, hätte sich doch milder und vernünftiger benehmen können. Ist der Geist Guizots ermüdet von den Tageskämpfen? Oder hätten wir uns in ihm geirrt, als wir ihn für den Kämpen hielten, der die Eroberungen des menschlichen Geistes gegen Lug und Klerisei am standhaftesten verteidigen würde? Als er, nach dem Sturz von Thiers, ans Ruder kam, schwärmten für ihn alle Schulmeister Germanias, und wir machten Chorus mit dem aufgeklärten Gelehrtenstand. Diese Hosiannatage sind vorüber, und es ergreift uns eine Verzagnis, ein Zweifel, ein Mißmut, der nicht auszusprechen weiß, was er nur dunkel empfindet und ahndet, und der sich endlich in ein grämliches Stillschweigen versenkt. Da wir wirklich nicht recht wissen, was wir sagen sollen, da wir an dem alten Meister irre geworden, so dürfte es wohl am ratsamsten sein, von andern Dingen zu schwatzen als von der Tagespolitik im gelangweilten, schläfrigen und gähnenden Frankreich. – Nur über das Verfahren gegen Edgar Quinet wollen wir noch unsre unmaßgebliche Rüge aussprechen. Wie den Michelet hätte man auch den Edgar Quinet nicht so schnöde reizen dürfen daß auch dieser jetzt, ganz seinem innersten Naturell zuwider getrieben ward, das Christkind mitsamt dem Bade auszuschütten und in die Reihen jener Kohorten zu treten, welche die äußerste Linke der revolutionären Armada bilden. Spiritualisten sind alles fähig, wenn man sie rasend macht, und sie können alsdann sogar in den nüchtern vernünftigsten Rationalismus überschnappen. Wer weiß, ob nicht Michelet und Quinet am Ende die krassesten Jakobiner werden, die tollsten Vernunftanbeter, fanatische Nachfrevler von Robespierre und Marat.
Michelet und Quinet sind nicht bloß gute Kameraden, getreue Waffenbrüder, sondern auch wahlverwandte Geistesgenossen. Dieselben Sympathien, dieselben Antipathien. Nur ist das Gemüt des einen weicher, ich möchte sagen indischer; der andere hat hingegen in seinem Wesen etwas Derbes, etwas Gotisches. Michelet mahnt mich an die großblumig starkgewürzten Riesengedichte des »Mahabharata«; Quinet erinnert vielmehr an die ebenso ungeheuerlichen, aber schrofferen und felsenhafteren Lieder der »Edda«. Quinet ist eine nordische Natur, man kann sagen eine deutsche, sie hat ganz den deutschen Charakter, im guten wie im üblen Sinne; Deutschlands Odem weht in allen seinen Schriften. Wenn ich den »Ahasver« oder andre Quinetsche Poesien lese, wird mir ganz heimatlich zumute, ich glaube die vaterländischen Nachtigallen zu vernehmen, ich rieche den Duft der Gelbveiglein, wohlbekannte Glockentöne summen mir ums Haupt, auch die wohlbekannten Schellenkappen höre ich klingeln: deutschen Tiefsinn, deutschen Denkerschmerz, deutsche Gemütlichkeit, deutsche Maikäfer, mitunter sogar ein bißchen deutsche Langeweile finde ich in den Schriften unseres Edgar Quinet. Ja, er ist der unsrige, er ist ein Deutscher, eine gute deutsche Haut, obgleich er sich in jüngster Zeit als ein wütender Germanenfresser gebärdete. Die rauhe, etwas täppische
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