Sämtliche Werke
wahlverwandteste Ähnlichkeit zwischen Berlioz und dem tollen Briten: derselbe Sinn für das Ungeheuerliche, für das Riesenhafte, für materielle Unermeßlichkeit. Bei dem einen die grellen Schatten- und Lichteffekte, bei dem andern kreischende Instrumentierung; bei dem einen wenig Melodie, bei dem andern wenig Farbe, bei beiden wenig Schönheit und gar kein Gemüt. Ihre Werke sind weder antik noch romantisch, sie erinnern weder an Griechenland noch an das katholische Mittelalter, sondern sie mahnen weit höher hinauf an die assyrisch-babylonisch-ägyptische Architekturperiode und an die massenhafte Passion, die sich darin aussprach.
Welch ein ordentlicher moderner Mensch ist dagegen unser Felix Mendelssohn-Bartholdy, der hochgefeierte Landsmann, den wir heute zunächst wegen der Symphonie erwähnen, die im Konzertsaale des Conservatoires von ihm gegeben worden. Dem tätigen Eifer seiner hiesigen Freunde und Gönner verdanken wir diesen Genuß. Obgleich diese Symphonie Mendelssohns im Conservatoire sehr frostig aufgenommen wurde, verdient sie dennoch die Anerkennung aller wahrhaft Kunstverständigen. Sie ist von echter Schönheit und gehört zu Mendelssohns besten Arbeiten. Wie aber kommt es, daß dem so verdienten und hochbegabten Künstler, seit der Aufführung des »Paulus«, den man dem hiesigen Publikum auferlegte, dennoch kein Lorbeerkranz auf französischem Boden hervorblühen will? Wie kommt es, daß hier alle Bemühungen scheitern und daß das letzte Verzweiflungsmittel des Odéontheaters, die Aufführung der Chöre zur »Antigone«, ebenfalls nur ein klägliches Resultat hervorbrachte? Mendelssohn bietet uns immer Gelegenheit, über die höchsten Probleme der Ästhetik nachzudenken. Namentlich werden wir bei ihm immer an die große Frage erinnert: Was ist der Unterschied zwischen Kunst und Lüge? Wir bewundern bei diesem Meister zumeist sein großes Talent für Form, für Stilistik, seine Begabnis, sich das Außerordentlichste anzueignen, seine reizend schöne Faktur, sein feines Eidechsenohr, seine zarten Fühlhörner und seine ernsthafte, ich möchte fast sagen passionierte Indifferenz. Suchen wir in einer Schwesterkunst nach einer analogen Erscheinung, so finden wir sie diesmal in der Dichtkunst, und sie heißt Ludwig Tieck. Auch dieser Meister wußte immer das Vorzüglichste zu reproduzieren, sei es schreibend oder vorlesend, er verstand sogar das Naive zu machen, und er hat doch nie etwas geschaffen, was die Menge bezwang und lebendig blieb in ihrem Herzen. Dem begabteren Mendelssohn würde es schon eher gelingen, etwas ewig Bleibendes zu schaffen, aber nicht auf dem Boden, wo zunächst Wahrheit und Leidenschaft verlangt wird, nämlich auf der Bühne; auch Ludwig Tieck, trotz seinem hitzigsten Gelüste, konnte es nie zu einer dramatischen Leistung bringen.
Außer der Mendelssohnschen Symphonie hörten wir im Conservatoire mit großem Interesse eine Symphonie des seligen Mozart und eine nicht minder talentvolle Komposition von Händel. Sie wurden mit großem Beifall aufgenommen.
Unser vortrefflicher Landsmann Ferdinand Hiller genießt unter den wahrhaft Kunstverständigen ein zu großes Ansehen, als daß wir nicht, so groß auch die Namen sind, die wir eben genannt, den seinigen hier unter den Komponisten erwähnen dürften, deren Arbeiten im Conservatoire die verdiente Anerkennung fanden. Hiller ist mehr ein denkender als ein fühlender Musiker, und man wirft ihm noch obendrein eine zu große Gelehrsamkeit vor. Geist und Wissenschaft mögen wohl manchmal in den Kompositionen dieses Doktrinärs etwas kühlend wirken, jedenfalls aber sind sie immer anmutig, reizend und schön. Von schiefmäuliger Exzentrizität ist hier keine Spur, Hiller besitzt eine artistische Wahlverwandtschaft mit seinem Landsmann Wolfgang Goethe. Auch Hiller ward geboren zu Frankfurt, wo ich, bei meiner letzten Durchreise, sein väterliches Haus sah; es ist genannt »Zum grünen Frosch«, und das Abbild eines Frosches ist über der Haustüre zu sehen. Hillers Kompositionen erinnern aber nie an solch unmusikalische Bestie, sondern nur an Nachtigallen, Lerchen und sonstiges Frühlingsgevögel.
An konzertgebenden Pianisten hat es auch dieses Jahr nicht gefehlt. Namentlich die Iden des Märzen waren in dieser Beziehung sehr bedenkliche Tage. Das alles klimpert drauflos und will gehört sein, und sei es auch nur zum Schein, um jenseits der Barriere von Paris sich als große Zelebrität gebärden zu dürfen. Den erbettelten oder
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