Sämtliche Werke
kommen sogar die Kanonen zum Vorschein… Der greise Böhmenkönig, welcher, blind und alt, als ein Vasall Frankreichs dieser Schlacht beiwohnte, merkte wohl, daß eine neue Zeit beginne, daß es mit dem Rittertum zu Ende sei, daß künftig der Mann zu Roß von dem Mann zu Fuß überwältigt werde, und er sprach zu seinen Rittern: »Ich bitte euch angelegentlichst, führt mich so weit ins Treffen hinein, daß ich noch einmal mit einem guten Schwertstreich dreinschlagen kann!« Sie gehorchten ihm, banden ihre Pferde an das seinige, jagten mit ihm in das wildeste Getümmel, und des andern Morgens fand man sie alle tot auf den Rücken ihrer toten Pferde, welche noch immer zusammengebunden waren. Wie dieser Böhmenkönig und seine Ritter, so fielen die Franzosen bei Crécy, bei Poitiers; sie starben, aber zu Pferde. Für England war der Sieg, für Frankreich war der Ruhm. Ja, sogar durch ihre Niederlagen wissen die Franzosen ihre Gegner in den Schatten zu stellen. Die Triumphe der Engländer sind immer eine Schande der Menschheit, seit den Tagen von Crécy und Poitiers, bis auf Waterloo. Klio ist immer ein Weib, trotz ihrer parteilosen Kälte ist sie empfindlich für Ritterlichkeit und Heldensinn; und ich bin überzeugt, nur mit knirschendem Herzen verzeichnet sie in ihre Denktafeln die Siege der Engländer.
Lady Grey
(Heinrich VI.)
Sie war eine arme Witwe, welche zitternd vor König Eduard trat und ihn anflehte, ihren Kindern das Gütchen zurückzugeben, das nach dem Tode ihres Gemahls den Feinden anheimgefallen war. Der wollüstige König, welcher ihre Keuschheit nicht zu kirren vermag, wird so sehr von ihren schönen Tränen bezaubert, daß er ihr die Krone aufs Haupt setzt. Wieviel Kümmernisse für beide dadurch entstanden, meldet die Weltgeschichte.
Hat Shakespeare wirklich den Charakter des erwähnten Königs ganz treu nach der Historie geschildert? Ich muß wieder auf die Bemerkung zurückkommen, daß er verstand, die Lakunen der Historie zu füllen. Seine Königscharaktere sind immer so wahr gezeichnet, daß man, wie ein englischer Schriftsteller bemerkt, manchmal meinen sollte, er sei während seines ganzen Lebens der Kanzler des Königs gewesen, den er in irgendeinem Drama agieren läßt. Für die Wahrheit seiner Schilderungen bürgt, nach meinem Bedünken, auch die frappante Ähnlichkeit, welche sich zwischen seinen alten Königen und jenen Königen der Jetztzeit kundgibt, die wir als Zeitgenossen am besten zu beurteilen vermögen.
Was Friedrich Schlegel von dem Geschichtschreiber sagt, gilt ganz eigentlich von unserem Dichter: er ist ein in die Vergangenheit schauender Prophet. Wäre es mir erlaubt, einem der berühmtesten unserer gekrönten Zeitgenossen den Spiegel vorzuhalten, so würde jeder einsehen, daß ihm Shakespeare schon vor zwei Jahrhunderten seinen Steckbrief ausgefertigt hat. In der Tat, beim Anblick dieses großen, vortrefflichen und gewiß auch glorreichen Monarchen überschleicht uns ein gewisses Schauergefühl, das wir zuweilen empfinden, wenn wir im wachen Tageslichte einer Gestalt begegnen, die wir schon in nächtlichen Träumen erblickt haben. Als wir ihn vor acht Jahren durch die Straßen der Hauptstadt reiten sahen, »barhäuptig und demütig nach allen Seiten grüßend«, dachten wir immer an die Worte, womit York des Bolingbrokes Einzug in London schildert. Sein Vetter, der neuere Richard II., kannte ihn sehr gut, durchschaute ihn immer und äußerte einst ganz richtig:
Wir selbst und Bushy, Bagot hier und Green
Sahn sein Bewerben beim geringen Volk,
Wie er sich wollt in ihre Herzen tauchen
Mit traulicher, demüt’ger Höflichkeit;
Was für Verehrung er an Knechte wegwarf,
Handwerker mit des Lächelns Kunst gewinnend
Und ruhigem Ertragen seines Loses,
Als wollt er ihre Neigung mit verbannen.
Vor einem Austerweib zieht er die Mütze,
Ein paar Karrnzieher grüßten: »Gott geleit’ Euch!«
Und ihnen ward des schmeid’gen Knies Tribut,
Nebst: »Dank, Landsleute! meine güt’gen Freunde!«
Ja, die Ähnlichkeit ist erschreckend. Ganz wie der ältere, entfaltete sich vor unsern Augen der heutige Bolingbroke, der, nach dem Sturze seines königlichen Vetters, den Thron bestieg, sich allmählich darauf befestigte: ein schlauer Held, ein kriechender Riese, ein Titan der Verstellung, entsetzlich, ja empörend ruhig, die Tatze in einem samtnen Handschuh und damit die öffentliche Meinung streichelnd, den Raub schon in weiter Ferne erspähend und nie darauf losspringend, bis
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