Sämtliche Werke
unfreundlich und lieblos, die edle Jungfrau, die ihr Vaterland befreite! Und hätte sie es auch mit der Hülfe der Hölle getan, sie verdiente dennoch Ehrfurcht und Bewunderung!
Oder haben die Kritiker recht, welche dem Stücke, worin die Pucelle auftritt, wie auch dem zweiten und dritten Teile »Heinrichs VI.«, die Autorschaft des großen Dichters absprechen? Sie behaupten, diese Trilogie gehöre zu den ältere Dramen, die er nur bearbeitet habe. Ich möchte gern, der Jungfrau von Orleans wegen, einer solchen Annahme beipflichten. Aber die vorgebrachten Argumente sind nicht haltbar. Diese bestrittenen Dramen tragen in manchen Stellen allzusehr das Vollgepräge des Shakespeareschen Geistes.
Margareta
(König Heinrich VI. Erster Teil)
Hier sehen wir die schöne Tochter des Grafen Reignier noch als Mädchen. Suffolk tritt auf und führt sie vor als Gefangene, doch ehe er sich dessen versieht, hat sie ihn selber gefesselt. Er mahnt uns ganz an den Rekruten, der, von einem Wachtposten aus, seinem Hauptmann entgegenschrie: »Ich habe einen Gefangenen gemacht.« – »So bringt ihn zu mir her«, antwortete der Hauptmann. »Ich kann nicht«, erwiderte der arme Rekrut, »denn mein Gefangener läßt mich nicht mehr los.«
Suffolk spricht:
Sei nicht beleidigt, Wunder der Natur!
Von mir gefangen werden ist dein Los.
So schützt der Schwan die flaumbedeckten Schwänlein,
Mit seinen Flügeln sie gefangenhaltend;
Allein, sobald dich kränkt die Sklaverei,
So geh und sei als Suffolks Freundin frei.
Sie wendet sich weg, als wollte sie gehn.
O bleib! Mir fehlt die Kraft, sie zu entlassen,
Befrein will sie die Hand, das Herz sagt nein.
Wie auf kristallnem Strom die Sonne spielt
Und blinkt mit zweitem nachgeahmten Strahl,
So scheint die lichte Schönheit meinen Augen;
Ich würbe gern, doch wag ich nicht zu reden;
Ich fodre Tint’ und Feder, ihr zu schreiben.
Pfui, de la Poole! entherze dich nicht selbst.
Hast keine Zung’? ist sie nicht dort?
Verzagst du vor dem Anblick eines Weibs?
Ach ja! der Schönheit hohe Majestät
Verwirrt die Zung’ und macht die Sinne wüst.
MARGARETA.
Sag, Graf von Suffolk (wenn du so dich nennst),
Was gilt’s zur Lösung, eh’ du mich entlässest?
Denn wie ich seh, bin ich bei dir Gefangne.
SUFFOLK
beiseit’.
Wie weißt du, ob sie deine Bitte weigert,
Eh’ du um ihre Liebe dich versucht?
MARGARETA.
Du sprichst nicht: was für Lösung muß ich zahlen?
SUFFOLK
beiseit’.
Ja, sie ist schön, drum muß man um sie werben;
Sie ist ein Weib, drum kann man sie gewinnen.
Er findet endlich das beste Mittel, die Gefangene zu behalten, indem er sie seinem Könige anvermählt und zugleich ihr öffentlicher Untertan und ihr heimlicher Liebhaber wird.
Ist dieses Verhältnis zwischen Margareten und Suffolk in der Geschichte begründet? Ich weiß nicht. Aber Shakespeares divinatorisches Auge sieht oft Dinge, wovon die Chronik nichts meldet und die dennoch wahr sind. Er kennt sogar jene flüchtigen Träume der Vergangenheit, die Klio aufzuzeichnen vergaß. Bleiben vielleicht auf dem Schauplatz der Begebenheiten allerlei bunte Abbilder derselben zurück, die nicht wie gewöhnliche Schatten mit den wirklichen Erscheinungen verschwinden, sondern gespenstisch haftenbleiben am Boden, unbemerkt von den gewöhnlichen Werkeltagsmenschen, die ahnungslos darüber hin ihre Geschäfte treiben, aber manchmal ganz farben- und formenbestimmt sichtbar werdend, für das sehende Auge jener Sonntagskinder, die wir Dichter nennen?
Königin Margareta
(Heinrich VI. Zweiter und Dritter Teil)
In diesem Bildnis sehen wir dieselbe Margareta als Königin, als Gemahlin des sechsten Heinrichs. Die Knospe hat sich entfaltet, sie ist jetzt eine vollblühende Rose; aber ein widerlicher Wurm liegt darin verborgen. Sie ist ein hartes, frevelhaftes Weib geworden. Beispiellos grausam in der wirklichen wie in der gedichteten Welt ist die Szene, wo sie dem weinenden York das gräßliche, in dem Blute seines Sohnes getauchte Tuch überreicht und ihn verhöhnt, daß er seine Tränen damit trocknen möge. Entsetzlich sind ihre Worte:
Sieh, York! dies Tuch befleckt ich mit dem Blut,
Das mit geschärftem Stahl der tapfre Clifford
Hervor ließ strömen aus des Knaben Busen;
Und kann dein Aug’ um seinen Tod sich feuchten,
So geb ich dir’s, die Wangen abzutrocknen.
Ach, armer York! haßt’ ich nicht tödlich dich,
So würd ich deinen Jammerstand beklagen.
So gräm dich doch, mich zu belust’gen, York!
Wie?
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