Sämtliche Werke
Ausdruck der Leidenschaft großes Gefallen gewannen. Aber ihm galt die Leidenschaft als das Höchste, und in seinen Dichtungen usurpierte sie den Platz der Poesie. Dadurch freilich wirkte er desto mehr auf der Bühne. Er gewöhnte das Publikum in dieser Sphäre, in der Darstellung der Leidenschaften, an die größten Kühnheiten des Shakespeare; und wer einmal an »Heinrich III.« und »Richard Darlington« Gefallen fand, klagte nicht mehr über Geschmacklosigkeit im »Othello« und »Richard III.« Der Vorwurf des Plagiats, den man ihm einst anheften wollte, war ebenso töricht wie ungerecht. Dumas hat freilich in seinen leidenschaftlichen Szenen hie und da etwas dem Shakespeare entlehnt, aber unser Schiller tat dieses mit noch weit kühnerem Zugriff, ohne dadurch irgendeinem Tadel zu verfallen. Und gar Shakespeare selber, wieviel entlehnte er nicht seinen Vorgängern! Auch diesem Dichter begegnete es, daß ein sauertöpfischer Pamphletist mit der Behauptung gegen ihn auftrat, das Beste seiner Dramen sei den ältern Schriftstellern entwendet. Shakespeare wird bei dieser lächerlichen Gelegenheit ein Rabe genannt, welcher sich mit dem fremden Gefieder des Pfauen geschmückt habe. Der Schwan von Avon schwieg und dachte vielleicht in seinem göttlichen Sinn: ›Ich bin weder Rabe noch Pfau!‹ und wiegte sich sorglos auf den blauen Fluten der Poesie, manchmal hinauflächelnd zu den Sternen, den goldenen Gedanken des Himmels.
Des Grafen Alfred de Vigny muß hier ebenfalls Erwähnung geschehen. Dieser Schriftsteller, des englischen Idioms kundig, beschäftigte sich am gründlichsten mit den Werken des Shakespeare, übersetzte einige derselben mit großem Geschick, und dieses Studium übte auch auf seine Originalarbeiten den günstigsten Einfluß. Bei dem feinhörigen und scharfäugigen Kunstsinn, den man dem Grafen de Vigny zuerkennen muß, darf man annehmen, daß er den Geist Shakespeares tiefer behorcht und beobachtet habe als die meisten seiner Landsleute. Aber das Talent dieses Mannes, wie auch seine Denk- und Gefühlart, ist auf das Zierliche und Miniaturmäßige gerichtet, und seine Werke sind besonders kostbar durch ihre ausgearbeitete Feinheit. Ich kann mir’s daher wohl denken, daß er manchmal wie verblüfft stehenblieb vor jenen ungeheuren Schönheiten, die Shakespeare gleichsam aus den gewaltigsten Granitblöcken der Poesie ausgehauen hat… Er betrachtete sie gewiß mit ängstlicher Bewunderung, gleich einem Geldschmied, der in Florenz jene kolossalen Pforten des Baptisterii anstarrt, die, einem einzigen Metallguß entsprungen, dennoch zierlich und lieblich, wie ziseliert, ja wie die feinste Bijouteriearbeit aussehen.
Wird es den Franzosen schon schwer genug, die Tragödien Shakespeares zu verstehen, so ist ihnen das Verständnis seiner Komödien fast ganz versagt. Die Poesie der Leidenschaft ist ihnen zugänglich; auch die Wahrheit der Charakteristik können sie bis auf einen gewissen Grad begreifen: denn ihre Herzen haben brennen gelernt, das Passionierte ist so recht ihr Fach, und mit ihrem analytischen Verstande wissen sie jeden gegebenen Charakter in seine feinsten Bestandteile zu zerlegen und die Phasen zu berechnen, worin er jedesmal geraten wird, wenn er mit bestimmten Weltrealitäten zusammenstößt. Aber im Zaubergarten der Shakespeareschen Komödie ist ihnen all dieses Erfahrungswissen von wenig Hülfe. Schon an der Pforte bleibt ihnen der Verstand stehen, und ihr Herz weiß kein Bescheid, und es fehlt ihnen die geheimnisvolle Wünschelrute, deren bloße Berührung das Schloß sprengt. Da schauen sie mit verwunderten Augen durch das goldene Gitter und sehen, wie Ritter und Edelfrauen, Schäfer und Schäferinnen, Narren und Weise unter den hohen Bäumen einherwandeln; wie der Liebende und seine Geliebte im kühlen Schatten lagern und zärtliche Reden tauschen; wie dann und wann ein Fabeltier, etwa ein Hirsch mit silbernem Geweih, vorüberjagt oder gar ein keusches Einhorn aus dem Busche springt und der schönen Jungfrau sein Haupt in den Schoß legt… Und sie sehen, wie aus den Bächen die Wasserfrauen, mit grünem Haar und glänzenden Schleiern, hervortauchen und wie plötzlich der Mond aufgeht… Und sie hören dann, wie die Nachtigall schlägt… Und sie schütteln ihre klugen Köpflein über all das unbegreiflich närrische Zeug! Ja, die Sonne können die Franzosen allenfalls begreifen, aber nicht den Mond, und am allerwenigsten das selige Schluchzen und melancholisch entzückte Trillern
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