Sämtliche Werke
Worte atmet, sehr viel Geschmack abgewinnen oder gar ihn verstehen könnten. Es herrscht freilich bei ihren Schriftstellern seit einiger Zeit ein unbändiges Streben nach solcher Natürlichkeit; sie reißen sich gleichsam verzweiflungsvoll die konventionellen Gewänder vom Leibe und zeigen sich in der schrecklichsten Nacktheit… Aber irgendein modischer Fetzen, welcher ihnen dennoch immer anhängen bleibt, gibt Kunde von der überlieferten Unnatur und entlockt dem deutschen Zuschauer ein ironisches Lächeln. Diese Schriftsteller mahnen mich immer an die Kupferstiche gewisser Romane, wo die unsittlichen Liebschaften des achtzehnten Jahrhunderts abkonterfeit sind und, trotz dem paradiesischen Naturkostüme der Herren und Damen, jene ihre Zopfperücken, diese ihre Turmfrisuren und ihre Schuhe mit hohen Absätzen beibehalten haben.
Nicht durch direkte Kritik, sondern indirekt, durch dramatische Schöpfungen, die dem Shakespeare mehr oder minder nachgebildet sind, gelangen die Franzosen zu einigem Verständnis des großen Dichters. Als ein Vermittler in dieser Weise ist Victor Hugo ganz besonders zu rühmen. Ich will ihn hiermit keineswegs als bloßen Nachahmer des Briten im gewöhnlichen Sinne betrachtet wissen. Victor Hugo ist ein Genius von erster Größe, und bewunderungswürdig ist sein Flug und seine Schöpferkraft; er hat das Bild und hat das Wort; er ist der größte Dichter Frankreichs; aber sein Pegasus hegt eine krankhafte Scheu vor den brausenden Strömen der Gegenwart und geht nicht gern zur Tränke, wo das Tageslicht in den frischen Fluten sich abspiegelt… vielmehr unter den Ruinen der Vergangenheit sucht er, zu seiner Erlabung, jene verschollenen Quellen, wo einst das hohe Flügelroß des Shakespeare seinen unsterblichen Durst gelöscht hat. Ist es nun, weil jene alten Quellen, halbverschüttet und übermoort, keinen reinen Trunk mehr bieten: genug, Victor Hugos dramatische Gedichte enthalten mehr den trüben Moder als den belebenden Geist der altenglischen Hippokrene, es fehlt ihnen die heitere Klarheit und die harmonische Gesundheit… und ich muß gestehen, zuweilen erfaßt mich der schauerliche Gedanke, dieser Victor Hugo sei das Gespenst eines englischen Poeten, aus der Blütezeit der Elisabeth, ein toter Dichter, der verdrießlich dem Grabe entstiegen, um in einem anderen Lande und in einer anderen Periode, wo er vor der Konkurrenz des großen Williams gesichert, einige postume Werke zu schreiben. In der Tat, Victor Hugo mahnt mich an Leute wie Marlowe, Decker, Heywood usw., die in Sprache und Manier ihrem großen Zeitgenossen so ähnlich waren und nur seinen Tiefblick und Schönheitssinn, seine furchtbare und lächelnde Grazie, seine offenbarende Natursendung entbehrten… Und ach! zu den Mängeln eines Marlowes, Deckers und Heywoods gesellt sich bei Victor Hugo noch das schlimmste Entbehrnis: es fehlt ihm das Leben. Jene litten an kochender Überfülle, an wildester Vollblütigkeit, und ihr poetisches Schaffen war geschriebenes Atmen, Jauchzen und Schluchzen; aber Victor Hugo, bei aller Verehrung, die ich ihm zolle, ich muß es gestehen, hat etwas Verstorbenes, Unheimliches, Spukhaftes, etwas grabentstiegen Vampirisches… Er weckt nicht die Begeisterung in unsern Herzen, sondern er saugt sie heraus… Er versöhnt nicht unsere Gefühle durch poetische Verklärung, sondern er erschreckt sie durch widerwärtiges Zerrbild… Er leidet an Tod und Häßlichkeit.
Eine junge Dame, die mir sehr nahesteht, äußerte sich jüngst über diese Häßlichkeitssucht der Hugoschen Muse mit sehr treffenden Worten. Sie sagte nämlich: »Die Muse des Victor Hugo mahnt mich an das Märchen von der wunderlichen Prinzessin, die nur den häßlichsten Mann heuraten wollte und in dieser Absicht im ganzen Lande das Aufgebot ergehen ließ, daß sich alle Junggesellen von ausgezeichneter Mißbildung an einem gewissen Tage vor ihrem Schlosse, als Ehekandidaten, versammeln sollten… Da gab’s nun freilich eine gute Auswahl von Krüppeln und Fratzen, und man glaubte das Personal eines Hugoschen Werkes vor sich zu sehen… Aber Quasimodo führte die Braut nach Hause.«
Nach Victor Hugo muß ich wieder des Alexander Dumas erwähnen; auch dieser hat dem Verständnis des Shakespeare in Frankreich mittelbar vorgearbeitet. Wenn jener durch Extravaganz im Häßlichen die Franzosen daran gewöhnte, im Drama nicht bloß die schöne Drapierung der Leidenschaft zu suchen, so bewirkte Dumas, daß seine Landsleute an dem natürlichen
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