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Sämtliche Werke

Titel: Sämtliche Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Heine
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der Nachtigallen…
    Ja, weder ihre empirische Bekanntschaft mit den menschlichen Passionen noch ihre positive Weltkenntnis ist den Franzosen von einigem Nutzen, wenn sie die Erscheinungen und Töne enträtseln wollen, die ihnen aus dem Zaubergarten der Shakespeareschen Komödie entgegenglänzen und -klingen… Sie glauben manchmal ein Menschengesicht zu sehen, und bei näherem Hinblick ist es eine Landschaft, und was sie für Augenbraunen hielten, war ein Haselbusch, und die Nase war ein Felsen und der Mund eine kleine Quelle, wie wir dergleichen auf den bekannten Vexierbildern schauen… Und umgekehrt, was die armen Franzosen für einen bizarr gewachsenen Baum oder wunderlichen Stein ansahen, das präsentiert sich bei genauerer Betrachtung als ein wirkliches Menschengesicht von ungeheuerem Ausdruck. Gelingt es ihnen etwa, mit höchster Anstrengung des Ohres irgendein Wechselgespräch der Liebenden, die im Schatten der Bäume lagern, zu belauschen, so geraten sie in noch größere Verlegenheit… Sie hören bekannte Worte, aber diese haben einen ganz anderen Sinn; und sie behaupten dann, diese Leute verstünden nichts von der flammenden Leidenschaft, von der großen Passion, das sei witziges Eis, was sie einander zur Erfrischung böten, nicht lodernder Liebestrunk… Und sie merkten nicht, daß diese Leute nur verkleidete Vögel sind und in einer Koteriesprache konversieren, die man nur im Traume oder in der frühesten Kindheit erlernen kann… Aber am schlimmsten geht es den Franzosen da draußen an den Gitterpforten der Shakespeareschen Komödie, wenn manchmal ein heiterer Westwind über ein Blumenbeet jenes Zaubergartens dahinstreicht und ihnen die unerhörtesten Wohlgerüche in die Nase weht… »Was ist das?«
    Die Gerechtigkeit verlangt, daß ich hier eines französischen Schriftstellers erwähne, welcher mit einigem Geschick die Shakespeareschen Komödien nachahmte und schon durch die Wahl seiner Muster eine seltene Empfänglichkeit für wahre Dichtkunst beurkundete. Dieser ist Herr Alfred de Musset. Er hat vor etwa fünf Jahren einige kleine Dramen geschrieben, die, was den Bau und die Weise betrifft, ganz den Komödien des Shakespeare nachgebildet sind. Besonders hat er sich die Kaprice (nicht den Humor), die in denselben herrscht, mit französischer Leichtigkeit zu eigen gemacht. Auch an einiger zwar sehr dünndrähtiger, aber doch probehaltiger Poesie fehlte es nicht in diesen hübschen Kleinigkeiten. Nur war zu bedauern, daß der damals jugendliche Verfasser außer der französischen Übersetzung des Shakespeare auch die des Byron gelesen hatte und dadurch verleitet ward, im Kostüme des spleenigen Lords jene Übersättigung und Lebenssattheit zu affektieren, die in jener Periode unter den jungen Leuten zu Paris Mode war. Die rosigsten Knäbchen, die gesundesten Gelbschnäbel behaupteten damals, ihre Genußfähigkeit sei erschöpft, sie erheuchelten eine greisenhafte Erkältung des Gemütes und gaben sich ein zerstörtes und gähnendes Aussehen.
    Seitdem freilich ist unser armer Monsieur Musset von seinem Irrtume zurückgekommen, und er spielt nicht mehr den Blasé in seinen Dichtungen – aber ach! seine Dichtungen enthalten jetzt, statt der simulierten Zerstörnis, die weit trostloseren Spuren eines wirklichen Verfalls seiner Leibes- und Seelenkräfte… Ach! dieser Schriftsteller erinnert mich an jene künstlichen Ruinen, die man in den Schloßgärten des achtzehnten Jahrhunderts zu erbauen pflegte, an jene Spielereien einer kindischen Laune, die aber im Laufe der Zeit unser wehmütigstes Mitleid in Anspruch nehmen, wenn sie in allem Ernste verwittern und vermodern und in wahrhafte Ruinen sich verwandeln.
    Die Franzosen sind, wie gesagt, wenig geeignet, den Geist der Shakespeareschen Komödien aufzufassen, und unter ihren Kritikern habe ich, mit Ausnahme eines einzigen, niemand gefunden, der auch nur eine Ahnung von diesem seltsamen Geiste besäße. Wer ist das? Wer ist jene Ausnahme? Gutzkow sagt, der Elefant sei der Doktrinär unter den Tieren. Und ein solcher verständiger und sehr schwerfälliger Elefant hat das Wesen der Shakespeareschen Komödie am scharfsinnigsten aufgefaßt. Ja, man sollte es kaum glauben, es ist Herr Guizot, welcher über jene graziösen und mutwilligsten Luftgebilde der modernen Muse das Beste geschrieben hat, und zur Verwunderung und Belehrung des Lesers übersetze ich hier eine Stelle aus einer Schrift, die im Jahr 1822 bei Ladvocat in Paris erschienen und »De Shakespeare

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