Sämtliche Werke
abhauen will, die muß man küssen – –
Ach! ich wollte, der König von Preußen hätte sich auch hier an die linke Hand küssen lassen und hätte mit der rechten Hand das Schwert ergriffen und dem gefährlichsten Feinde des Vaterlands so begegnet, wie es Pflicht und Gewissen verlangten. Haben sich diese Hohenzollern die Vogtwürde des Reiches im Norden angemaßt, so mußten sie auch seine Marken sichern gegen das herandrängende Rußland. Die Russen sind ein braves Volk, und ich will sie gern achten und lieben; aber seit dem Falle Warschaus, der letzten Schutzmauer, die uns von ihnen getrennt, sind sie unseren Herzen so nahe gerückt, daß mir angst wird.
Ich fürchte, wenn uns jetzt der Zar von Rußland wieder besucht, dann ist an uns die Reihe, ihm die Hand zu küssen – Gott sei uns allen gnädig!
Gott sei uns allen gnädig! Unsere letzte Schutzmauer ist gefallen, die Göttin der Freiheit erbleicht unsere Freunde liegen zu Boden, der römische Großpfaffe erhebt sich boshaft lächelnd, und die siegende Aristokratie steht triumphierend an dem Sarge des Volkstums.
Ich höre, Delaroche malt jetzt ein Seitenstück zu seinem Cromwell, einen Napoleon auf Sankt Helena, und er wählt den Moment, wo Sir Hudson Lowe die Decke aufhebt von dem Leichnam jenes großen Repräsentanten der Demokratie.
Zu meinem Thema zurückkehrend, hätte ich hier noch manche wackere Maler zu rühmen; aber trotz des besten Willens ist es mir dennoch unmöglich, ihre stillen Verdienste ruhig auseinanderzusetzen, denn da draußen stürmt es wirklich zu laut, und es ist unmöglich, die Gedanken zusammenzufassen, wenn solche Stürme in der Seele widerhallen. Ist es doch in Paris sogar an sogenannt ruhigen Tagen sehr schwer, das eigene Gemüt von den Erscheinungen der Straße abzuwenden und Privatträumen nachzuhängen. Wenn die Kunst auch in Paris mehr als anderswo blüht, so werden wir doch in ihrem Genusse jeden Augenblick gestört durch das rohe Geräusch des Lebens; die süßesten Töne der Pasta und Malibran werden uns verleidet durch den Notschrei der erbitterten Armut, und das trunkene Herz, das eben Roberts Farbenlust eingeschlürft, wird schnell wieder ernüchtert durch den Anblick des öffentlichen Elends. Es gehört fast ein Goethescher Egoismus dazu, um hier zu einem ungetrübten Kunstgenuß zu gelangen, und wie sehr einem gar die Kunstkritik erschwert wird, das fühle ich eben in diesem Augenblick. Ich vermochte gestern dennoch an diesem Berichte weiterzuschreiben, nachdem ich einmal unterdessen nach den Boulevards gegangen war, wo ich einen todblassen Menschen vor Hunger und Elend niederfallen sah. Aber wenn auf einmal ein ganzes Volk niederfällt an den Boulevards von Europa – dann ist es unmöglich, ruhig weiterzuschreiben. Wenn die Augen des Kritikers von Tränen getrübt werden, ist auch sein Urteil wenig mehr wert.
Mit Recht klagen die Künstler in dieser Zeit der Zwietracht, der allgemeinen Befehdung. Man sagt, die Malerei bedürfe des friedlichen Ölbaumes in jeder Hinsicht. Die Herzen, die ängstlich lauschen, ob nicht die Kriegstrompete erklingt, haben gewiß nicht die gehörige Aufmerksamkeit für die süße Musik. Die Oper wird mit tauben Ohren gehört, das Ballett sogar wird nur teilnahmlos angeglotzt. »Und daran ist die verdammte Julirevolution schuld«, seufzen die Künstler, und sie verwünschen die Freiheit und die leidige Politik, die alles verschlingt, so daß von ihnen gar nicht mehr die Rede ist.
Wie ich höre – aber ich kann’s kaum glauben –, wird sogar in Berlin nicht mehr vom Theater gesprochen, und der »Morning Chronicle«, der gestern berichtet, daß die Reformbill im Unterhause durchgegangen sei, erzählt bei dieser Gelegenheit, daß der Doktor Raupach sich jetzt in Baden-Baden befinde und über die Zeit jammere, weil sein Kunsttalent dadurch zugrunde gehe.
Ich bin gewiß ein großer Verehrer des Doktor Raupach, ich bin immer ins Theater gegangen, wenn die »Schülerschwänke« oder die »Sieben Mädchen in Uniform« oder »Das Fest der Handwerker« oder sonst ein Stück von ihm gegeben wurde; aber ich kann doch nicht leugnen, daß der Untergang Warschaus mir weit mehr Kummer macht, als ich vielleicht empfinden würde, wenn der Doktor Raupach mit seinem Kunsttalente unterginge. O Warschau! Warschau! nicht für einen ganzen Wald von Raupachen hätte ich dich hingegeben!
Meine alte Prophezeiung von dem Ende der Kunstperiode, die bei der Wiege Goethes anfing und bei seinem Sarge aufhören
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