Sämtliche Werke
Tyrannenknechten zu entgehen, sich selber töteten; der schöne Anteos war der letzte, noch einmal beugte er sich über den toten Kleomenes, den geliebten Freund, und küßte die geliebten Lippen und stürzte sich dann in sein Schwert.
Über die Zahl derer, die auf der Rue Saint-Martin gefochten, ist noch nichts Bestimmtes ermittelt. Ich glaube, daß anfangs gegen zweihundert Republikaner dort versammelt gewesen, die aber endlich, wie oben angedeutet, während des Tages vom 6. Juni auf sechzig zusammengeschmolzen waren. Kein einziger war dabei, der einen bekannten Namen trug oder den man früher als einen ausgezeichneten Kämpen des Republikanismus gekannt hätte. Es ist das wieder ein Zeichen, daß, wenn jetzt nicht viele Heldennamen in Frankreich besonders laut erklingen, keineswegs der Mangel an Helden daran schuld ist. Überhaupt scheint die Weltperiode vorbei zu sein, wo die Taten der einzelnen hervorragen; die Völker, die Parteien, die Massen selber sind die Helden der neuern Zeit; die moderne Tragödie unterscheidet sich von der antiken dadurch, daß jetzt die Chöre agieren und die eigentlichen Hauptrollen spielen, während die Götter, Heroen und Tyrannen, die früherhin die handelnden Personen waren, jetzt zu mäßigen Repräsentanten des Parteiwillens und der Volkstat herabsinken und zur schwatzenden Betrachtung hingestellt sind, als Thronredner, als Gastmahlpräsidenten, Landtagsabgeordnete, Minister, Tribüne usw. Die Tafelrunde des großen Ludwig Philipp, die ganze Opposition mit ihren comptes rendus, mit ihren Deputationen, die Herren Odilon-Barrot, Lafitte und Arago, wie passiv und geringselig erscheinen diese abgedroschenen renommierten Leute, diese scheinbaren Notabilitäten, wenn man sie mit den Helden der Rue Saint-Martin vergleicht, deren Namen niemand kennt, die gleichsam anonym gestorben sind.
Der bescheidene Tod dieser großen Unbekannten vermag nicht bloß uns eine wehmütige Rührung einzuflößen, sondern er ermutigt auch unsere Seele, als Zeugnis, daß viele tausend Menschen, die wir gar nicht kennen, bereit stehen, für die heilige Sache der Menschheit ihr Leben zu opfern. Die Despoten aber müssen von heimlichem Grauen erfaßt werden, bei dem Gedanken, daß eine solche unbekannte Schar von Todessüchtigen sie immer umringt gleich den vermummten Dienern einer heiligen Feme. Mit Recht fürchten sie Frankreich, die rote Erde der Freiheit!
Es ist ein Irrtum, wenn man etwa glaubt, daß die Helden der Rue Saint-Martin zu den unteren Volksklassen gehört oder gar zum Pöbel, wie man sich ausdrückt; nein, es waren meistens Studenten, schöne Jünglinge, von der École d’Alfort, Künstler, Journalisten, überhaupt Strebende, darunter auch einige Ouvriers, die unter der groben Jacke sehr feine Herzen trugen. Bei dem Kloster Saint-Merry scheinen nur junge Menschen gefochten zu haben; an andern Orten kämpften auch alte Leute. Unter den Gefangenen, die ich durch die Stadt führen sehen, befanden sich auch Greise, und besonders auffallend war mir die Miene eines alten Mannes, der, nebst einigen Schülern der École polytechnique, nach der Conciergerie gebracht wurde. Letztere gingen gebeugten Hauptes, düster und wüst, das Gemüt zerrissen, wie ihre Kleider; der Alte hingegen ging zwar ärmlich und altfränkisch, aber sorgfältig angezogen, mit abgeschabt strohgelbem Frack und dito Weste und Hose, zugeschnitten nach der neuesten Mode von 1793, mit einem großen dreieckigen Hut auf dem alten gepuderten Köpfchen, und das Gesicht so sorglos, so vergnügt fast, als ging’s zu einer Hochzeit; eine alte Frau lief hinter ihm drein, in der Hand einen Regenschirm, den sie ihm nachzubringen schien, und in jeder Falte ihres Gesichtes eine Todesangst, wie man sie wohl empfinden kann, wenn es heißt, irgendeiner unserer Lieben soll vor ein Kriegsgericht gestellt und binnen vierundzwanzig Stunden erschossen werden. Ich kann das Gesicht jenes alten Mannes gar nicht vergessen. Auf der Morgue sah ich den 8. Junius ebenfalls einen alten Mann, der mit Wunden bedeckt war und, wie ein neben mir stehender Nationalgarde mir versichert, ebenfalls als Republikaner sehr kompromittiert sei. Er lag aber auf den Bänken der Morgue. Letztere ist nämlich ein Gebäude, wo man die Leichen, die man auf der Straße oder in der Seine findet, hinbringt und ausstellt und wo man also die Angehörigen, die man vermißt, aufzusuchen pflegt.
An obenerwähntem Tage, den 8. Juni, begaben sich so viele Menschen nach der Morgue, daß
Weitere Kostenlose Bücher