Saemtliche Werke von Jean Paul
sie an ihres Bruders seine drückte. Am Hofkaplan will mans rühmen, daß er den invaliden Mops, der an den Hinterfüßen das Podagra und an den Vorderfüßen das Chiragra hatte, ruhig in seinem Wohn- und Schlafkorb wieder unter den Ofen schob, die Säulenordnung der Sessel ohne Keifen herstellte und den kleinen Bastian unter der freudigen Sprachenverwirrung wiegte, damit er sie nicht vermehrte, wenn er erwachte. Aber im erhaben geschliffnen Herzen der Landsmännin, der Kaplänin, gingen die Freudenstrahlen der Familie in einen Brennpunkt zusammen und verbreiteten in ihrer ganzen Brust die Lebenwärme der Liebe. – Viktor lächelte sie so sehr in sein Gesicht hinein, daß sie sich mit nichts zu retten wußte als mit seiner künftigen Stube, die sie ihm zu öffnen und zu zeigen befahl. Agathe flog mit dem Schlüssel-Geläute voran, und dem Gaste zogen nicht mehr Leute hinterdrein, als im Hause waren, und wollten sämtlich sehen, was er dazu sagte.
Er übergab sich der ganzen freundschaftlichen Handhabung, nicht mit dem eiteln Selbstgefühl eines ausgebildeten Fremdlings, sondern mit einer vergnügten, folgsamen, fast kindlichen Verwirrung – er kümmerte sich nichts darum, daß er wie ein Kind aussah, so sanft, so froh und so ohne Ansprüche. In solchen Stunden ists schwer, zu sitzen – oder eine Historie anzuhören – oder eine zu erzählen….. Jedes fing eine an; aber der Kaplan sprang dazwischen: »Wir haben ganz andere Dinge zu sagen.« Aber es kamen keine ganz andere Dinge. – Jedes wollte den Fremdling unter vier Ohren genießen, aber die sechs bleibenden Ohren waren nicht wegzubringen. – Meine Beschreibung seiner Verwirrung ist selber verwirrt; aber es geht mir allemal so: z. B. wenn ich Eiligkeit schildere, so tu’ ichs unbewußt selber mit der größten. – Wars einem solchen Herzen wie seinem, das in den Federn der Liebe wiegend hing, noch nötig, daß es in jedem zersägten Fensterstock, in jedem glatten Pflastersteinchen, in jeder vom Regen gebohrten vertieften Arbeit auf dem Haustürstein seine Knabenjahre musivisch abgebildet sah, und daß er in denselben Gegenständen Alter und Neuheit genoß? Diese Knabenjahre, die ihm aus einem Schatten erschienen, wohnend auf St. Lünens Fluren, zwischen frohen Sonntagen in lauter Blumen und bei geliebten Gesichtern, diese Knabenjahre hatten einen dunkeln Spiegel in Händen, in dem die dämmernde Perspektive seiner Kinderjahre zurücklief – und in dieser entfernten Zauber-Nacht stand schimmernd Dahore , sein unvergeßlicher Lehrer in London, der ihn so geliebt, so geschont, so veredelt hatte. »Ach,« dacht’ er, »du unbelohntes, für die Erde zu warmes Herz, wo schlägst du jetzt, warum kann ich nicht meine Seufzer mit deinen vereinigen und zu dir sagen: Lehrer, Geliebter? O! der Mensch sieht es oft spät ein, wie sehr er geliebt wurde, wie vergeßlich und undankbar er war, und wie groß das verkannte Herz.« .. Was seine stille Freude am meisten ernährte, war der Gedanke, daß er sie verdiene durch seinen kindlichen Gehorsam gegen seinen Vater und durch seinen Entschluß zu künftigen Herkules-Arbeiten am Hofe – denn ihm fiel in jede große Freude der Zweifel wie ein bitterer Magentropfen hinein, ob er sie verdiene; ein Zweifel, der regierenden Häusern, Woiwoden, Patriarchen und Hochmeistern in der Kindheit geschickt benommen wird. Der bessere Mensch findet die Freude erst nach einer guten Tat am süßesten, das Osterfest nach einer Passionswoche.
Die Leserinnen werden jetzo hören wollen, was auf Mittag gekocht war; aber die Dokumente dieses Posttags, die mir halb auf der Achse, halb zu Wasser einlaufen, besagen erstlich, daß niemand Appetit hatte – die Freude nimmt ihn mehr als der Gram –, ausgenommen die drei Regimenter, die wie Veteranen in den Feind einhieben, nämlich in den Tafel-Abhub; zweitens, daß das Mahl noch magerer war als der Gast selber. Man will aber sämtliche Lesegesellschaften hiemit auf das unbewegliche Fest des 4ten Maies einladen, auf den Freitag, wo erst Viktors Ankunft und seines Patchens Kirchgang anständig gefeiert wird.
Die Pfarrerin zog den umzingelten Geliebten nachmittags aus dem musikalischen Zirkel so vieler Töne und kaperte ihn ihrem Manne, dessen Direktrice und Lady Maire sie war, vor den Augen weg und führte ihn in sein Zimmer, um da vor ihm allein sich zu betrüben, sich zu erfreuen und sich auszureden wie eine Mutter; lang eingeschlossene Seufzer und veraltete Tränen drangen jetzt aus dem
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