Saemtliche Werke von Jean Paul
alle in ein so weites reines Lieben ein, daß auch die von mir geliebte Katharina nach meiner Erinnerung nicht anders von mir geliebt wurde als alle übrigen.«
Es ist schwer festzustellen, zu welcher Zeit Fritz sich innerlich von dem Vater löste und bewußt, abgetrennt von seiner Familie, sein eigenes Leben zu führen begann. Die wirtschaftlichen Verhältnisse waren trotz des größeren Gehalts die denkbar schlechtesten. Vier Söhne wuchsen jetzt in dem kleinen Pfarrhaus heran und zwei Töchter, die wohl früh gestorben sind. Von den Subsidiengängen zu den Großeltern nach Hof ist jetzt keine Rede mehr, sei es, weil der Vater sich seinen Schwiegereltern entfremdet hatte, oder daß auch hier die Mittel nicht mehr so reichlich flossen wie früher. Die zweite Tochter der Großeltern war mit einem Gerichtsadvokaten und Goldarbeiter Riedel in Hof verheiratet. Es scheint, daß Riedels schon damals bei den Großeltern ihren Einfluß gegen die Familie der älteren Tochter aufboten. Jedenfalls nahm mit der Übersiedlung nach Schwarzenbach die Not der Pfarrleute nicht ab, sondern eher zu.
In dieser Zeit machte der Knabe, dessen außerordentliche Begabung nicht unbemerkt blieb, eine der wichtigsten Bekanntschaften seines Lebens: mit dem Pfarrer Erhard Friedrich Vogel in Rehau, einem kleinen Dorfe bei Hof und Schwarzenbach, in dem bereits der Großvater Richter vor seiner Berufung nach Neustadt am Kulm als Organist gewirkt hatte. Vogel war für einen Pfarrer der kleinen Gemeinden des Fichtelgebirges eine Aufsehen erregende Erscheinung. In ihm zog der Geist der Aufklärung in die bis dahin von jeder geistigen Bewegung unberührt gebliebene Landschaft ein. Er gehörte der »heterodoxen« Richtung an und war entschiedener Rationalist und Feind der ängstlich dogmatischen Auslegung des Christentums. Mit Eifer verfolgte er die literarische und wissenschaftliche Entwicklung der Zeit und verfügte über eine ungewöhnlich reichhaltige Bibliothek. Ein Wunder in jener entlegenen Gegend.
Diese Bibliothek stellte er dem jungen Jean Paul zur Verfügung, dem nun auf einmal die Tore der Wissenschaft sich weit öffneten. Für die nächsten Jahre bleiben die von Vogel erhaltenen Bücher das Hauptereignis seines Lebens. Bei seinem jahrelang empfundenen Bücherhunger begnügte er sich nicht, sich in einzelne Wissenszweige zu vertiefen, sondern gewohnt, aufzunehmen, was sich ihm nur an geistiger Nahrung bieten wollte, stürzte er sich auf Werke aus allen Zweigen des menschlichen Wissens. Diese Art zu lesen behielt er sein Leben lang bei. Es war die Folge seines unüberwachten Studienganges. Wohl kein Schriftsteller jener Zeit hat auch nur annähernd über einen gleichen Wissensschatz aus allen Gebieten verfügt wie Jean Paul, und wie eine ungeheure Last schleppt er dieses Wissen und diese Belesenheit auch durch seine Schöpfungen.
Seine eigentümliche Neigung, alles Gelesene festzuhalten, entwickelte sich damals ebenfalls aus den äußeren Umständen. Da er Bücher immer nur leihweise erhielt, litt er unter der Angst, die Frucht aller seiner Anstrengungen verrinnen zu sehen, und begann jene Exzerptensammlungen, die bis zu seinem Tode wie Lawinen anschwollen. Schon in der letzten Schwarzenbacher Zeit füllten seine Exzerpte dicke Bände von mehreren hundert Seiten. Wir können seine Lektüre an der Hand dieser Auszüge stets aufs genaueste verfolgen, wenn ein Menschenleben ausreichen würde, diesen Allesverschlinger auf allen seinen Wegen zu begleiten. Theologische Werke, zu deren Durcharbeitung schon der Kaplan Völkel den Grund legte, herrschen vor. Nur daß die Anzahl der gelesenen Schriften jetzt unter dem Einfluß und der Beihilfe Vogels ins Grandiose schwillt. Bald kommen naturwissenschaftliche und ästhetische Schriften hinzu. Den zweiten Exzerptenband füllen medizinische, juristische, geschichtliche und allgemeinwissenschaftliche Abhandlungen. Die Richtung des Ganzen ist durch den rationalistischen Charakter der Zeit gegeben. Neben Gellert ist Nicolai, das Haupt der Berliner Schule, mit seinem Erziehungsroman »Sebaldus Nothanker« vertreten. In Hutchesons »Untersuchungen unserer Begriffe von Schönheit und Tugend« spielt auch bereits die englische Literatur hinein, die die deutsche jener Zeit so befruchtete.
Eine derartige Aufnahmefähigkeit in jugendlichem Alter hat etwas Erschreckendes an sich. Aber Vogels Bibliothek vermittelte ihm die erste Berührung mit seiner, mit der von ihm seit Jahren ersehnten und ergierten Welt. Und
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