Saemtliche Werke von Jean Paul
Völkels erst auf das rechte Geleise schob, so gewann doch Jean Pauls Hang, sich jeder dauernden Einwirkung zu entziehen, die Fesseln abzuwerfen und auf eigene Faust in das neu erschlossene Gelände hineinzurasen, die Oberhand. Er brach auch die Unterrichtsstunden bei dem Kaplan plötzlich ab. Der äußere Anlaß war für den Knaben bezeichnend: Völkel hatte ihn in die Geheimnisse des Schachspiels eingeweiht, das von da ab ein Lieblingsspiel Jean Pauls blieb, obwohl er es auch später darin zu keiner besonderen Fertigkeit brachte. Der Unterricht pflegte durch eine Partie Schach beendet zu werden. Einmal ließ Völkel, wohl aus Vergeßlichkeit, eine versprochene Partie ausfallen. Fritz, der trotz Kopfschmerzen in Hoffnung auf das Schachspiel zur Stunde gekommen war, blieb von da ab fort. Sein Verhältnis zu Völkel blieb im übrigen das denkbar beste. Mit Freuden machte er zwischen ihm und dem Vater den Boten, und »mit Liebeblicken und Freudepulsen sah ich ihn fast nach jeder Kindtaufe… bei meinem Vater einspringen und – ich las oder arbeitete nicht weit von ihrem Sprechtische – den halben oder ganzen Abend da verplaudern; aber ich hatte mir, wie gesagt, das Schachbrett in den Kopf gesetzt und blieb weg«.
In diese Schwarzenbacher Zeit fällt auch der erste Kuß, den Jean Paul nicht ohne Anwendung persönlichen Mutes einer Mitschülerin Katharina Bär auf die Lippen drückte. Am Schulkarneval, einer Feier, die den ganzen Fastnachtvormittag einnahm, konnte er mit ihr den unregelmäßigen Hopstanz machen, nachdem er sie bis dahin aus der Ferne bewundert hatte. In der Klasse saß sie hoch oben auf der hintersten Bank, und wie einst zu Augustina in der Kirche schmachtete er nun zu ihr von seinem Schulsitz hinauf. Er sah sie täglich, wenn sie mit ihrem schneeweißen Schürzchen und Häubchen über die lange Brücke dem Pfarrhause entgegenlief, stürzte im Fluge über den Pfarrhof, die kleine Treppe hinab, um die Vorbeilaufende abzufangen, was immer mißglückte. Der Sohn des verstorbenen Pfarrers war es, der ihn zu einem Heldenstück verführte. Im Dunkeln schlich Fritz sich aus dem Pfarrhaus, überquerte die Brücke und ging geradeswegs in das Haus, worin die Geliebte mit ihrer armen Mutter wohnte. Unter irgendeinem Vorwande gelang es dem mutigeren Freund, Katharina herunterzulocken. Auf der dunklen Treppe durfte er zum erstenmal ein lang geliebtes Wesen an Mund und Brust drücken. »Weiter wüßt’ ich auch nichts zu sagen, es war eine Einzigperle von Minute, die nie da war, nie wiederkam; eine ganze sehnsüchtige Vergangenheit und ein Zukunfttraum war in einen Augenblick zusammen eingepreßt; und im Finstern hinter den geschlossenen Augen entfaltete sich das Feuerwerk des Lebens für einen Blick und war dahin… . Wortströme konnten mein Paradies nicht ersäufen; denn blüht es nicht noch heute fort, bis an diese Feder heran und aus ihr heraus?« Alle tiefen Seligkeiten des ersten Kusses in seinen Romanen haben von diesem Erlebnis auf der dunklen Treppe etwas mitbekommen, das ihn nicht weniger erschütterte, und in keinem profaneren Sinne, als jenes Ereignis, mit dem er seine Selbstbiographie beschließt: das erste Abendmahl.
Mochte er damals über Gottesbeweise und aufgeklärte Theologie für sein Alter erstaunliche Aufsätze schreiben können, die kirchliche Einsegnung nahm er mit heißer Seele auf, und so tief war das Erlebnis des ersten Abendmahls, daß er die Empfindungen, die ihn damals durchwogten, später seinem Helden Gustav in der »Unsichtbaren Loge« ins Herz legte. »Wie oft ging ich vor dem Beichtsonnabende unter den Dachboden hinauf und kniete hin, um zu bereuen und zu büßen! Und wie wohl tat es dann, an dem Beichttage selber, noch allen geliebten Menschen, Eltern und Lehrern, mit stammelnder Zunge und überfließendem Herzen alle Fehler abzubitten und diese und sich dadurch gleichsam zu entsühnen.« »Mein Herz und Sinn und Feuer war bloß dem Himmel, der Seligkeit und dem Empfange des Heiligsten hingegeben, der sich mit meinem Wesen vereinigen sollte; und die Seligkeit ging bis zum körperlichen Gefühlblitze der Wundervereinigung… . Die Erinnerung der Seligkeit, wie ich alle Kirchgänger mit Liebe ansah und alle in mein Inneres aufnahm, hab’ ich bis jetzo lebendig und jugendlich frisch in meinem Herzen aufbewahrt. Die weiblichen Mitgenossinnen des heiligen Tisches wurden nur mit ihren Brautkränzen als Bräute Christi nicht nur geliebter, sondern auch heiliger; und ich schloß sie
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