Saemtliche Werke von Jean Paul
Vorlesungen des Theologen Morus empfindet er den Widerspruch zwischen dem gesunden Menschenverstand und der erzwungenen Lehrmeinung der Dozenten. »Der größte Fehler, den die Freiheit des Denkens in Sachsen findet, ist, daß die Großen, die Adligen noch nicht aufgeklärt sind. In Sachsen wird jedes freie Buch konfisziert. Morus ist unstreitig nicht orthodox. Er hat schon viele Verfolgungen erlitten; und eben dieses macht ihn behutsam und hindert ihn, seine Meinung frei herauszusagen… In seiner Dogmatik trägt er bei streitigen Punkten die Meinungen der entgegengesetzten Parteien vor – er überläßt den Zuhörern die Entscheidung. Und wer wollte da nicht aus der Stärke seiner Gründe auf der einen Seite herausbringen, welches seine wahre Meinung sei.« Aber diese wahre Meinung frei herauszusagen war den Lehrern der akademischen Jugend verwehrt.
Wenn Platner auch vorübergehend seine Begeisterung erwecken konnte, im allgemeinen fühlte er sich von dem Lehrbetrieb der Universität zurückgestoßen und ernüchtert. Was er am heißesten ersehnte: den persönlichen Verkehr mit einem großen Manne, das vermochte ihm Leipzig nicht zu geben. Immer wieder irren seine Gedanken um diesen Wunsch. »Ein großer Mann ist am größten in seiner Stube und noch größer in sich selbst. Draußen in der Welt blendet er nur und verschießt feurige Strahlen, man muß näher bei ihm sein, um Wärme von ihm zu empfangen.« Er glaubt, daß das, was er von den Professoren im Hörsaal vernimmt, nicht ihrer Weisheit letzter Schluß sein könne. Immer vermutet er Größeres dahinter, was sie in der Öffentlichkeit verschweigen müssen, und ist verbittert, daß ihm dieses Letzte wegen seiner Armut verschlossen ist. Er phantasiert sich in den Verkehr mit einem großen Manne hinein. Aber auch hier sieht er unüberwindliche Hindernisse. Kein Mann könne eines Jünglings Freund sein, weil der Jüngling mit dem Manne, dem er Ehrfurcht schuldig sei, nicht von sich selbst reden könne. Warum erkennt man das Genie eines jungen Menschen nicht so leicht? »Man beurteilt ihn nur aus dem, was er merkt, nicht aus dem, was er denkt.« »Um ihn kennenzulernen, müßt ihr das Schulgesicht ablegen und auf eurem Gesicht den männlichen Ernst mit der jugendlichen Freundlichkeit vertauschen. Er wird dann begierig, durch seine Offenheit euren Beifall zu verdienen; seine Strahlen des Genies wird er nicht mit dem Schleier der Gewohnheit verdecken. Im entgegengesetzten Falle seht ihr ihn nicht, wie er ist, sondern wie ihr ihn vermutet; er sagt euch dann nicht seine Gedanken, sondern die, von denen er glaubt, daß ihr sie erwarten werdet.« Eine reife und bittere Psychologie für einen jungen Genius, der sich von jeder Mitteilung an einen Führer ausgeschlossen sieht. Aber er hat diese psychologische Einsicht später genützt und ist zahlreichen Jünglingen der Gedankenheber gewesen, den er selbst vermissen mußte.
Daß seine älteren Höfer und Schwarzenbacher Freunde, die Vogel, Völkel, Werner und Kirsch, diese Führer nicht waren, darüber hatte der Jüngling wohl bald keinen Zweifel mehr, und Vogel selbst erkannte es, und mehr noch: er sagte es frei heraus: »Sie können noch dereinst mehr Verdienst um mich haben, als ich gegenwärtig um Sie gehabt habe. Heben Sie diese Weissagung auf!« schrieb er ihm gleich in einem der ersten Briefe nach Leipzig und grüßte so als erster den jungen aufstrebenden Genius.
Wenn Jean Paul mit solchen Aufzeichnungen, wie denen über das Verhältnis des genialen Jünglings zum großen Manne, ungeduldig gegen das Schicksal seiner Verlassenheit und Einsamkeit aufbegehrte, so ließ er sich keineswegs in seinen Arbeiten aufhalten. Mit Heißhunger nahm er ganze Literaturen in sich auf. In dieser ersten Leipziger Zeit drang er zu den eigentlichen literarischen Quellen der deutschen Aufklärung, zu den englischen Schriftstellern, vor. Pope und Young waren es, die ihn durch ihre Formvollendung und ihre leichte und mondäne Satire entzückten. Nicht der Young der »Nachtgedanken«, sondern der Young der Satiren. Hauptsächlich bot ihm aber Pope, diese Inkarnation des nüchternen englischen Rationalismus, eine Fülle von Anregungen. Die Abhandlung »Etwas über den Menschen«, die er im Sommer 1781 verfaßte, ist wohl auf die Lektüre von Popes » Essay on Man « zurückzuführen, und wenn er ein halbes Jahr später, auf Erasmus’ » Encomium moriae « zurückgehend, ein »Lob der Dummheit« schrieb, so ist auch manches von Popes
Weitere Kostenlose Bücher