Säule Der Welten: Roman
dieses Gebäude verlassen, sollt ihr wissen, warum Sacrus sich gegen uns alle stellt. Sacrus glaubt nämlich, es wäre über Spyre hinausgewachsen wie eine Wespe über ihre Wabenzelle. Vor Jahrhunderten hat es Buridan angegriffen und zerstört, um uns
einen Schatz abzunehmen. Das ist damals nicht gelungen, aber Sacrus hat die Hoffnung nie aufgegeben. Seit Buridans Sturz wartet es auf eine Chance, etwas in die Hand zu bekommen, das Buridan seit Anbeginn der Zeiten für ganz Spyre hütet.« Jetzt kam sie erst richtig in Fahrt. Auch die Offiziere hatten innegehalten und waren sichtlich neugierig auf ihre nächsten Worte.
»Seit der Gründung von Spyre hütet meine Familie einen der wertvollsten Gegenstände dieser Welt! Dieses Schatzes wegen haben wir uns über Generationen im Buridan-Turm verschanzt und uns nicht hinausgewagt, aus Angst, Sacrus könnte erfahren, dass der Turm nicht die leere Hülle ist, für den es ihn hielt - aus Angst, es würde erfahren, dass man ihn betreten kann. Was wir in unserer Obhut hatten, ist so gefährlich, dass meine Brüder und Schwestern, meine Eltern, Großeltern und deren Großeltern ihr Leben hingaben, um zu verhindern, dass auch nur die leiseste Andeutung von seiner Existenz aus unseren Mauern dränge.
Irgendwann konnten wir uns nicht länger ernähren«, fuhr sie leiser fort, »und ich musste mich hinauswagen.« Venera kamen für einen Moment Bedenken. Sie fabrizierte da aus dem Stegreif eine abenteuerliche Geschichte; aber sie begeisterte die Zuschauer, und wenn die Begeisterung groß genug war, würde niemand mehr Guinevera glauben, falls er überlebte und sie der Hochstapelei beschuldigen wollte.
»Sobald ich mich zeigte«, sagte sie, »wusste Sacrus, dass Buridan überlebt hatte, und man wusste auch, warum wir im Versteck geblieben waren und dass ich den letzten Schlüssel zu Candesce bei mir trug!«
Sie hielt inne und ließ die Echos verklingen. Dann verschränkte sie die Arme, schaute über die Soldaten hinweg und wartete. Zwei, fünf, zehn Sekunden vergingen, dann wandten sie sich einander zu, begannen erst zu tuscheln, dann laut zu reden, runzelten die Stirn und nickten. Einige waren stolz darauf, die alten Legenden zu kennen und berichteten ihren Nachbarn von den Schlüsseln. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Offiziere in der vordersten Reihe sahen sich bestürzt an.
Venera hob die Hand, und es wurde still. »Darum geht es bei diesem Krieg«, sagte sie. »Sacrus weiß seit Jahrhunderten von der Existenz dieses Schlüssels. Es hat schon einmal versucht, ihn an sich zu bringen, und Buridan und seine Verbündeten haben sich widersetzt. Jetzt ist man wieder dahinter her. Wenn Sacrus ihn bekommt, braucht es Spyre nicht mehr. Für Sacrus ist Spyre die verhasste Wabenzelle, in der es seit Generationen eingesperrt ist. Es wird sie abwerfen und ins Licht fliegen, und es wird sich nicht darum kümmern, ob Spyre dabei zu Bruch geht. Bestenfalls betrachtet es diese Welt als geeignete Hauptstadt für das weltumspannende Reich, das es errichten will - wobei natürlich zuerst die alten Besitzungen dem Erdboden gleichgemacht werden müssten. Ja, der Zylinder wird einen prächtigen Park für die neuen Herrscher von Virga abgeben. Sie werden Platz für die Statthalter ihrer neuen Provinzen brauchen, für Gefangene, Sklaven, Schatzkammern und Kasernen. Vielleicht reißen sie gar nicht alle Gebäude nieder. Aber euch und eure Besitzungen … Ich hoffe nur, ihr habt Verwandte in einer der Prinzipalitäten, denn Gesindel wie uns wird man hier nicht weiter wohnen lassen.«
Die Soldaten begannen lauthals zu zetern. Zu spät hatten die Offiziere bemerkt, dass sie die Kontrolle verloren hatten; einige stürmten auf die Lokomotive zu, aber Venera duckte sich und funkelte sie so wütend an, als wollte sie sich auf sie stürzen. Sie wichen zurück.
Nun stellte sie sich auf die Zehenspitzen und reckte eine Faust über den Kopf. »Wir müssen sie aufhalten! Der Schlüssel muss geschützt werden, denn ohne ihn ist Spyre verloren. Ihr kämpft nicht nur um euer Leben - nicht nur um euer Zuhause. Ihr allein steht zwischen Sacrus und der langsamen Strangulierung der ganzen Welt!
Wollt ihr sie aufhalten?« Alle riefen Ja. »Wollt ihr?« Sie schrien es aus voller Kehle.
Venera hatte selbst nie eine solche Rede gehört, aber sie war manchmal dabei gewesen, wenn Chaison Seelenmassage betrieb, und sie hatte in Büchern über ähnliche Momente gelesen. Sie fühlte sich
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