Säule Der Welten: Roman
zurückversetzt in die romantischen Geschichten, die sie als kleines Mädchen in ihrem rosaroten Schlafzimmer verschlungen hatte. Grauenvolles Schmierentheater, aber auch die Männer hier hatten keinerlei Vergleichsmöglichkeiten; wahrscheinlich waren nur die wenigsten überhaupt schon einmal im Theater gewesen. Die meisten waren nie weiter von zu Hause weggekommen als bis zu diesem Lokschuppen, und die riesige Lokomotive hatten sie immer nur von ferne gesehen. Sie standen zwischen Mitbürgern, die vor dem heutigen Tag nur Punkte in einem Teleskop gewesen waren, und sie lernten gerade, dass ihre Loyalität zu Spyre sie alle, auch die eigenbrötlerischsten Sonderlinge, miteinander vereinte.
Dass sie außer Rand und Band gerieten, war nur natürlich.
Ohne die Faust zu senken, lächelte Venera auf den Kommandanten hinab. Der schüttelte den Kopf und gab sich geschlagen.
Bryce und Jacoby Sarto kletterten über die Seitenwand der Lokomotive zu ihr hinauf. »Was gibt es Neues?«, fragte sie über das Gebrüll zu ihren Füßen hinweg.
Bryce blinzelte auf die Szene hinab. »Äh … sie sind unterwegs.«
Sarto nickte. »Ich habe dem Kommandanten der Sacrus-Armee telegrafiert. Sie sähen ein, dass Ihre Lage aussichtslos ist und würden Ihr Heer in eine Falle führen.«
Sie grinste. »Gut.« Dann wandte sie sich wieder der Menge zu und hob abermals die Faust.
»Es! Ist! Zeiiiiiit!«
20
Das Geräusch, mit dem die Kugeln in Liris’ Mauern einschlugen, erinnerte Garth Diamandis an große Tropfen, die nach einem Regen von Bäumen fallen. Stille, dann ein Klatsch , dem in diesem Fall der ferne Knall eines Schusses folgte. Vor der Schießscharte, durch die er das Geschehen beobachtete, sammelte sich die Armee der Ratsallianz neben dem rostigen Lokschuppen. Im Licht des frühen Morgens wogte sie wie ein schwarzer Teppich in drohendem Schweigen auf Liris zu. Von der Sacrus-Front stiegen Rauchwölkchen auf, aber die Schüsse waren nicht koordiniert.
»Komm von da weg«, sagte Veneras Freundin Eilen. Sie standen in einem muffigen Kämmerchen voll halber Türrahmen, zerbrochener Schubladen und gesplitterter Tischbeine: nutzloser Kram, den aber eine so winzige Nation wie Liris unmöglich entsorgen konnte. Vom Korridor her fiel der Schein einer Laterne auf Eilens Haar. Sie könnte attraktiv sein, bemerkte eine altvertraute Stimme in seinem Gehirn. Früher hätte er ihr dabei behilflich sein können.
»Ich habe einen guten Blick auf das Sacrus-Lager«, sagte er. »Und oben auf dem Dach ist es im Moment zu gefährlich.«
»Du wirst noch eine Kugel ins Auge bekommen«, warnte sie. Er knurrte nur und wandte sich wieder der Öffnung zu, und gleich darauf hörte er sie hinausgehen. Er konnte ihr nicht sagen, dass er eine der uniformierten Gestalten da unten erkannt hatte. Vielleicht auch zwei, er war nicht sicher, aber Eilen hätte ihm sicher vorgehalten, er leide unter senilen Wahnvorstellungen, wenn er behauptete, er hätte unter den Hunderten von roten Uniformen seine Tochter herausgefunden.
Vielleicht war es ja nur Einbildung. Er hatte kaum Gelegenheit gehabt, sich ihr Aussehen einzuprägen, bevor sie ihren Vorgesetzten ein Zeichen gegeben hatte und Sacrus’ Schläger über ihn hergefallen waren. Aber Garth hatte ein Auge für Frauen und konnte sich bei jeder Einzelnen bis ins Kleinste an ihre Bewegungen oder ihre Haltung erinnern. Aus der Art, wie eine Frau stand oder welche Gesten sie immer wieder verwendete, konnte er eine Menge über ihren Charakter und ihre Verletzlichkeit ableiten; und er verstand sich verdammt gut darauf, Personen von ferne zu erkennen. Die Frau, die da so schief neben jenem Zelt stand, war Selene, davon war er überzeugt.
Garth fluchte leise. Es war nie seine Art gewesen, in alten Wunden zu bohren, aber seit man ihn im Grey-Hospital in diese stinkende Zelle geworfen hatte, kreisten seine Gedanken unaufhörlich um den Moment, in dem Selene ihn verraten hatte.
Unmittelbar zuvor hatte er ihr erklärt, er sei ihr Vater. In den Sekunden dazwischen hatte er die Zweifel in ihren Augen gesehen - und dann war die Frau mit dem irren Blick und dem rosarot gefärbten Haar an ihre Seite getreten.
»Er sagte, er sei mein Vater«, hatte Selene gemurmelt, als die Soldaten Garth Handschellen anlegten. Die Frau mit dem rosaroten Haar hatte gelacht.
»Wer weiß?«, hatte Selene gesagt. »Es könnte schon sein.« Die Frau hatte wieder gelacht, und Garth hatte in den Augen seiner Tochter ein grausames Funkeln gesehen.
Weitere Kostenlose Bücher