Säule Der Welten: Roman
Dann hatte man ihn davongeschleppt.
Da war sie wieder, die kirschblütenfarbene Mähne. Diesmal lugte sie unter einer grauen Soldatenmütze hervor. Sie war also Offizier. Zum letzten Mal hatte Garth sie in einem verrückten Fiebertraum gesehen, in dem Venera immer wieder hektisch seinen Namen flüsterte. Diese Frau hatte zwischen Glaskästen gestanden, aber sie war nackt und von oben bis unten in eine rote Flüssigkeit getaucht gewesen. Venera hatte sie beim Namen genannt, aber Garth konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie hieß.
Das Schießen wurde heftiger. Garth reckte sich und schaute zum Lokschuppen hinüber. Sacrus’ Streitkräfte rückten vor, um die Ratstruppen an der Innenseite von Liris in ein Gefecht zu verwickeln. Doch dahinter sah er ein ebenso großes Kontingent von Sacrus-Soldaten im Bogen der Rückseite des Gebäudes zustreben. Sie waren auf dem Weg zum Rand der Welt.
Garth schwante, was die Ratsarmee vorhatte. Sie drängte auf das Niemandsland voller Dornen und Mauerschutt zu, das knapp hundert Meter von Liris’ Mauern entfernt war. Von dort aus konnte sie sich jederzeit nach links oder nach rechts wenden - nach innen oder zum Rand der Welt hin. Sacrus müsste seine Truppen in zwei Teile spalten, um beide Möglichkeiten abdecken zu können.
Es war ein intelligenter Plan, und er munterte Garth für einen Moment auf. Doch dann sah er, wie unter ihm weitere Sacrus-Soldaten ihre Posten verließen. Sie ließen eine lärmende, in Pulverdampf gehüllte Rotte von etwa zweihundert Mann zurück, um die Innenseite zu verteidigen, während der Rest der Streitmacht auf Liris’ Rückseite zumarschierte, wo sie vom Lokschuppen aus nicht mehr zu sehen war. Sie rechneten offensichtlich damit, dass sich die Ratsarmee nach rechts wenden und versuchen würde, Guinevera und Anseratte am sturmumtosten Rand der Welt zu retten. Aber woher wussten sie, was der Rat plante?
Garth sprang fluchend von der alten Anrichte, auf der er gesessen hatte. Die Gänge waren vollgepfercht mit Bewaffneten, zumeist alten Männern und Frauen (seltsam, wie er andere seiner Generation als alt einstufte, sich selbst aber nicht). Er drängte sich rücksichtslos durch die Menge. »Wo zum Teufel ist Moss?«
Jemand zeigte auf einen engen, ebenfalls verstopften Seitengang. Liris’ neuer Botaniker war in ein Gespräch mit einem von Bryces Männern vertieft, dem Einzigen, der sich noch in diesen Mauern befand. »Ich brauche Signalflaggen«, rief ihm Garth über zwei Schultern hinweg zu. »Die Ratstruppen müssen erfahren, was Sacrus tut.«
Zu Moss’ Ehre musste gesagt werden, dass er keinen Lidschlag lang zögerte. Er hob die Hand, zeigte auf einen Mann und streckte zwei Finger in die Höhe. »Vorderes Magazin«, sagte er, dann deutete er auf einen zweiten Mann und auf Garth. »Mitgehen.«
Kostbare Minuten vergingen, bis Garth und sein neuer Helfer die Flaggen gefunden hatten. Danach mussten
sie sich den Weg zur Treppe freikämpfen. Als sie oben ins Freie traten, empfing sie das betäubende Rauschen des Windes und anhaltendes Gewehrfeuer. Tief geduckt rannten sie zum Rand des Dachs.
»Sie erwarten, dass Sie sich so verhalten, als wüssten Sie nichts von dem Schlüssel«, erklärte Venera zum zehnten Mal. Sie war von nervösen Offizieren und Adjutanten umgeben; der Kommandant mit dem grauen Schnurrbart stand mit verschränkten Armen da und beobachtete mit düsterer Miene, was sie mit einem Stock auf den Boden zeichnete. »Wenn Sie davon nichts wissen, muss das Ziel Ihrer Strategie natürlich die Befreiung von Guineveras Truppen sein. Jacoby Sarto hat seinen Vorgesetzten erklärt, wir hätten das vor. Damit bekommt Sacrus freie Hand, um Liris zu erobern, und das wollen sie ohnehin.«
Der Kommandant nickte widerstrebend. Eine Kugel pfiff vorbei - beängstigend nahe. Sie standen hinter einem dichten Gestrüpp am Rand des Niemandslands. In Chaisons Armee hätte sich die Truppe kaum als Kompanie bezeichnen dürfen. Aber Sacrus hatte nicht viel mehr Soldaten.
»Also«, fuhr sie fort. »Wir täuschen nach rechts an und schlagen nach links zu. Ich möchte in aller Bescheidenheit vorschlagen, mit Dauerfeuer gegen Sacrus’ Stellung an der randwärtigen Seite des Niemandslandes zu beginnen.«
Die Offiziere beratschlagten - viel zu lange für ihren Geschmack -, dann erklärte der Kommandant: »Es ist zu riskant. Und ich stehe Ihrer Geschichte auch weiterhin skeptisch gegenüber.«
Er glaubte nicht, dass es den Schlüssel wirklich gab.
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