SÄURE
und hob ihr Gesicht an. Sie fühlte sich kalt und reglos an, war aber bei Bewußtsein, normale Atmung. Ihre Augen jedoch waren starr, blickten ins Leere; ich wußte, daß sie zu Boden sinken würde, wenn ich sie losließ. Die Schar der uniformierten Mähner beobachtete uns. Ich zog Melissa fort.
Chickering und Gautier blieben. Chickering beobachtete mich, verwundert und irritiert. Gautier warf einen Blick auf Melissa und wirkte ehrlich besorgt.
»Es ist okay«, sagte ich. »Wir verschwinden jetzt von hier, falls Sie einverstanden sind.«
Gautier nickte. Chickering sah aufs Wasser hinaus. Don Ramp stand allein da, bis zu den Fußknöcheln im Schlamm. Er hatte sich irgendwie in einen gebrechlich wirkenden alten Mann mit hängenden Schultern verwandelt.
Ich versuchte ihn auf mich aufmerksam zu machen, dachte, es wäre mir gelungen, als er sich mir zuwandte. Aber er sah an mir vorbei mit Augen, die so trübe wie das Wasser im Reservoir waren.
Die Hubschrauber waren weitergeflogen und schickten von irgendwo im Norden ihre Brummtöne herüber. Ich hörte plötzlich das Wasser ans Ufer plätschern, roch den scharfen Chlorophyllgeruch des Unterholzes, den Kohlenwasserstoffgestank leckender Motorflüssigkeiten.
Melissa bewegte sich, begann zu weinen, leise, bis sich ihre Schmerzlaute immer mehr zu einem schrillen Wimmern steigerten. Milo hatte hinter mir gewartet, ohne daß ich es gemerkt hatte. Und im selben Augenblick erwachte Ramp aus seiner Trance. Er kam auf uns zu, zögerte, ging noch ein paar Schritte, zögerte wieder, überlegte es sich anders und kehrte um.
24
Milo und ich brachten Melissa zu meinem Wagen hinauf. Wir hatten sie untergefaßt und mußten sie streckenweise tragen. Milo kehrte zum Rolls zurück, und ich fuhr sie nach Hause, bereitete mich auf die Therapie vor. Sie legte den Kopf nach hinten und schloß die Augen, und als ich am unteren Ende der Bergstraße ankam, schnarchte sie leise.
Das Tor zu dem Haus am Sussex Knoll stand offen. Ich trug sie zur Haustür hinauf und klopfte. Nach einer Weile, die mir sehr lang vorkam, öffnete Madeleine. Sie trug einen bis zum Hals geschlossenen weißen Morgenmantel. Keine Anzeichen der Überraschung auf ihrem breiten verwelkten Gesicht, als wäre sie es gewöhnt, allein zu trauern. Ich ging an ihr vorbei in den Salon und bettete Melissa auf eine der Couchen.
Madeleine eilte fort und kehrte mit einer Decke und einem Kissen zurück. Sie hockte sich hin, hob Melissa den Kopf an, schob das Kissen darunter, zog ihr die Turnschuhe aus, breitete die Decke über sie und stopfte ihr die Ecken unter die Füße.
Melissa drehte sich zur Seite herum, mit dem Gesicht zur Sofalehne. Ein paar ruckartige Hin und Herbewegungen unter der Decke, dann wand sich eine Hand heraus, und der ausgestreckte Daumen kam auf Melissas Unterlippe zur Ruhe.
Immer noch kniend strich Madeleine Melissa das Haar aus dem Gesicht. Dann stand sie auf, glättete ihren Morgenmantel und sah mich mit einem harten, hungrigen Blick an, der Auskunft verlangte.
Ich krümmte einen Finger, und sie folgte mir durchs Zimmer, aus Melissas Hörweite. Als wir stehen blieben, stand sie sehr nahe bei mir, atmete heftig, ihr Busen hob und senkte sich. Ihr Haar war zu einem festen Zopf geflochten. Sie hatte irgendein Rosenwasser-Eau-de-Cologne genommen.
»Nur der Wagen, Monsieur?«
»Leider.« Ich erzählte ihr von der Hubschrauber-Suchaktion.
Ihre Augen blieben trocken, aber sie wischte sie sich hastig mit den Fingerknöcheln.
Ich sagte: »Es kann sein, daß sie immer noch irgendwo im Park ist. Wenn ja, wird man sie finden.«
Madeleine sagte nichts, zog an einem Fingergelenk, bis es knackte.
Melissa gab Daumen-Sauggeräusche von sich. Madeleine sah sie an, dann wieder mich: »Sie bleiben, Monsieur?«
»Für eine Weile.«
»Ich bin hier, Monsieur.«
»Gut. Wir wechseln uns ab.« Sie antwortete nicht.
Ich war nicht sicher, ob sie mich verstanden hatte, und wiederholte: »Wir passen abwechselnd auf, damit sie nicht allein ist.«
Sie ging auch darauf nicht ein, stand nur da, mit Augen wie aus Granit.
Ich fragte: »Möchten Sie irgend etwas sagen, Madeleine?«
»Non, Monsieur.«
»Dann ruhen Sie sich doch aus.«
»Nicht müde, Monsieur.«
Wir saßen beisammen an den einander entgegengesetzten Enden der Couch, auf der Melissa schlummerte. Madeleine stand ein paarmal auf, um an der Decke herumzuzupfen, obwohl Melissa sich fast gar nicht bewegte. Keiner von uns beiden sagte ein Wort. Dann und wann
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